Michel schlug noch einmal mit der Faust auf die Kiste.
»Ich!«, sagte er. Und dann erzählte er, wie es werden sollte. Ein Festmahl sollte es werden, dass es nur so krachte, denn nun sollten alle Menschen aus dem Armenhaus von Lönneberga hierher nach Katthult kommen, und zwar auf der Stelle!
»Ja, aber Michel«, sagte Klein-Ida ängstlich, »bist du sicher, dass das kein Unfug ist?«
Alfred wurde auch ängstlich und glaubte, es sei vielleicht Unfug. Aber Michel versicherte ihm, es sei wirklich keiner. Es sei eine gute Tat und Gottes Engel würden darüber ebenso in die Hände klatschen, wie sie vorher über das elende Weihnachten im Armenhaus geweint hätten.
»Mama wird sich auch freuen«, sagte Michel.
»Ja, aber Papa ...«, sagte Klein-Ida.
»Hm«, machte Michel. »Aber es ist auf keinen Fall Unfug.« Dann schwieg er und dachte wieder nach.
»Aber sie alle aus der Höhle des Löwen zu kriegen, das wird das Schwerste sein«, sagte er. »Kommt, wir gehen hin und versuchen es!«
Zu der Zeit hatte die Maduskan alle Wurste, alle Klöße, allen Schinken und die Fleischklöße, dazu den Rest des Safranstollens und die letzten Pfefferkuchen in sich hineingestopft und sie hatte sorgfältig den Schnupftabak von Stolle-Jocke aufgeschnupft. Nun saß sie in ihrem Zimmer unterm Dach und fühlte sich elend, so wie man sich fühlt, wenn man unrecht getan und außerdem viel zu viele Klöße gegessen hat. Hinunter zu den anderen wollte sie nicht gehen, die seufzten ja nur und glotzten sie an und sprachen kein Wort.
Wie sie so trübsinnig dasaß, hörte sie, dass jemand an die Außentür klopfte. Da hatte sie es eilig die Treppe runterzukommen um nachzusehen, wer es war.
Michel war es, der da draußen stand. Michel aus Katthult. Und nun kriegte sie es mit der Angst zu tun.
Vielleicht hatte Stolle-Jocke oder Unken-Ulla etwas erzählt und vielleicht kam Michel deshalb hierher.
Aber der kleine Michel machte nur höflich einen Diener und fragte: »Habe ich vielleicht mein Taschenmesser vergessen, als ich das letzte Mal hier war?«
Denk nur, wie pfiffig er war. Michels Taschenmesser steckte wohlbehalten in seiner eigenen Hosentasche. Aber er brauchte doch einen Vorwand, um ins Armenhaus zu gelangen, und deshalb hatte er sich diese Frage ausgedacht.
Die Maduskan versicherte, dass sie kein Taschenmesser gesehen hätten. Und dann fragte Micheclass="underline" »Haben die Würste geschmeckt? Und die Sülze und all das andere?«
Die Maduskan schlug die Augen nieder, starrte auf ihre breiten Füße.
»Aber, aber«, sagte sie rasch. »Ja, die liebe Mutter auf Katthult - sie weiß schon, was der Arme braucht.
Grüß sie ganz herzlich!«
Und jetzt sagte Michel das, was er sagen wollte, weshalb er hergekommen war. Er sagte es allerdings so nebenbei, als sei es nichts besonders Wichtiges.
»Mama und Papa sind zum Weihnachtsschmaus auf Skorphult«, sagte er.
Da wurde sie neugierig.
»So, heute ist Schmaus auf Skorphult? Das wusste ich nicht.«
Nein, sonst wärst du schon längst dort, dachte Michel. Er wusste ebenso gut wie alle anderen in Lönne-berga, dass die Maduskan bestimmt in der Küchentür stand, sobald irgendwo geschmaust wurde, das war mal sicher. Und man wurde sie nicht eher wieder los, bevor sie nicht wenigstens etwas Käsekuchen bekommen hatte. Für Käsekuchen ging sie durchs Feuer.
Und wenn du jemals in Lönneberga bei einem Festessen gewesen bist, dann weißt du genauso gut wie die Maduskan, dass dort auf dem Tisch lange Reihen blinkender Kupferschüsseln mit Käsekuchen standen, den
die Gäste als Geschenk überreicht hatten - als »Mitbringsel«, wie es in Lönneberga hieß.
»Siebzehn Käsekuchen«, sagte Michel. »Was sagst du dazu?«
Nun konnte Michel ja unmöglich wissen, ob sie auf Skorphult siebzehn Käsekuchen hatten, und das behauptete er auch nicht, denn lügen wollte er nicht. Er sagte nur schlau: »Siebzehn Käsekuchen, was soll man dazu sagen?«
»Ja, das möchte ich auch wissen«, sagte die Madus-kan.
Dann ging Michel. Jetzt hatte er das seine getan. Er wusste, dass die Maduskan sich spätestens in einer halben Stunde auf den Weg nach Skorphult machen würde.
Und das hatte Michel sich richtig ausgerechnet. Er und Alfred und Klein-Ida lauerten hinter einem Holzstapel und sahen die Maduskan herauskommen, in ihr dickstes Umschlagtuch gehüllt und mit dem Bettelsack unter dem Arm: Jetzt wollte sie nach Skorphult. Aber -kann man sich so eine Hexe vorstellen? - sie schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel ein! Das hatte sie sich fein ausgedacht! Nun waren die armen Wesen eingesperrt wie in einem Gefängnis. Und das war der Maduskan wohl nur recht. Jetzt sollte Stolle-Jocke nur versuchen wieder auszureißen, er würde schon sehen, wer hier die Macht hatte und mit wem nicht zu spaßen war!Und so schnell ihre dicken Beine sie trugen, trabte die Maduskan davon nach Skorphult.
Michel ging hin und rüttelte an der Tür und merkte, wie gründlich abgeschlossen sie war. Das taten auch Alfred und Klein-Ida - ja, sie war abgeschlossen, da gab es nichts zu rütteln.
Hinter den Fenstern drängten sich alle Armenhäusler und starrten erschrocken auf die drei, die draußen standen und hineinwollten. Michel aber rief: »Ihr sollt zum Festessen nach Katthult kommen! Wenn wir euch bloß rausholen könnten! « Im Armenhaus begann es zu summen wie in einem Bienenkorb. Das war einzigartig und wunderbar, zugleich aber war es ein Elend zum Verzweifeln, denn sie waren eingeschlossen und wussten sich keinen Rat, wie sie herauskommen sollten.
Nun sagst du vielleicht: Warum öffneten sie nicht ein Fenster und kletterten hinaus, das konnte doch nicht schwer sein? Man merkt, du hast nie etwas von Innenfenstern gehört. Im Winter konnte man im Armenhaus kein einziges Fenster öffnen - der Innenfenster wegen. Die waren ordentlich festgenagelt und an den Rahmen außerdem mit Papierstreifen verklebt, damit kein Wind durch die Ritzen pfeifen konnte. Aber wie lüftete man dann, fragst du vielleicht? Liebes Kind, wie kannst du so dumm fragen! Wer hat denn gesagt, dass man im Armenhaus lüftete? An solchen Verrücktheiten war niemand interessiert, denn keiner begehrte mehr frische Luft als das bisschen, das durch den Rauchfang oder durch Ritzen in undichten Wänden oder Fußbodendielen eindrang.
Nein, durch die Fenster konnten die Ärmsten nicht heraus! Ein Fenster, das man öffnen konnte, gab es allerdings, aber das war oben bei der Maduskan im Bodenzimmer und kein noch so hungriger Armenhäusler machte einen Sprung aus vier Meter Höhe, um zu einem Festessen zu kommen - das wäre ein Sprung geradewegs ins Himmelreich, das war ja klar.
Doch Michel gab wegen solcher Kleinigkeiten nicht auf. Er fand tatsächlich eine Leiter unter dem Holzschuppen versteckt und die stellte er an das Fenster des Bodenzimmers, das Unken-Ulla schon freudig geöffnet hatte. Alfred kletterte die Leiter hinauf. Er war groß und stark und konnte kleine schmächtige Armenhäusler tragen wie nichts. Zwar schrien sie ach und oh und jammerten, aber herunter kamen sie alle.
Nur Salia Amalia nicht. Sie traute sich nicht und wollte nicht. Die Vibergsche versprach aber, ihr so viel vom Festessen mitzubringen, wie sie nur tragen konnte, und damit war Salia Amalia zufrieden.
Wenn nun jemand an diesem Weihnachtstag, gerade als es anfing zu dämmern, den Katthult-Weg entlanggefahren wäre, er hätte sicher geglaubt, eine Reihe grauer Spukgestalten zu sehen, die sich dort hinkend und keuchend den Hügel hinauf nach Katthult bewegten. Sie sahen aber auch wirklich gespenstisch aus in ihren Lumpen, diese armen Alten, aber fröhlich wie Lerchen und munter wie Kinder waren sie. Ach, ach, ach. Es war ja schon so lange her, dass sie auf einem Weihnachtsschmaus gewesen waren! Sie freuten sich, wenn sie an die Maduskan dachten, die bald zurückkommen und ein leeres Armenhaus vorfinden würde, in dem nur ein einziges kümmerliches Wesen war: Salia Amalia.