»Du brauchst keine Angst mehr zu haben, kleiner Michel. Papa hat sich hingelegt. Du kannst jetzt herauskommen.«
Aber da kam aus dem Tischlerschuppen ein schreckliches »Ha!«.
»Warum sagst du >Ha<?«, fragte seine Mama. »Mach
die Tür auf und komm raus, kleiner Michel!«
»Ich komm nie mehr raus«, sagte Michel mit dumpfer Stimme. »Und versuch nicht reinzukommen, denn dann schieß ich!«
Michels Mama sah ihren kleinen Jungen drinnen am Fenster stehen, die Büsse in der Hand. Zuerst wollte sie nicht glauben, dass er es ernst meinte, aber als sie schließlich begriff, dass es doch so war, rannte sie weinend ins Haus und weckte Michels Papa.
»Michel sitzt im Tischlerschuppen und will nicht rauskommen«, sagte sie. »Was sollen wir nur machen?« Klein-Ida wachte auf und fing sofort an zu heulen.
Und alle rannten sie zum Tischlerschuppen: Michels Papa, Michels Mama und Klein-Ida. Und Alfred und Lina, die auf der Treppe zur Knechtshütte saßen und schöntaten, mussten damit aufhören - sehr zu Linas Verdruss. Jetzt mussten eben alle helfen Michel herauszubekommen.
Michels Papa war zuerst ganz munter.
»Na, na! Du wirst schon rauskommen, wenn du Hunger hast!«, rief er.
»Ha«, sagte Michel wieder.
Sein Papa wusste nicht, was Michel hinter der Hobelbank in einer Dose hatte. Einen prächtigen kleinen Vorrat an Essen, tatsächlich. Pfiffig wie er war, hatte er schon dafür gesorgt, dass er im Tischlerschuppen nicht Hungers sterben konnte. Er wusste ja nie, an welchem Tag und zu welcher Stunde er hier landen würde, und deshalb hatte er immer etwas Essbares in seiner Dose. Gerade jetzt lagen darin Brot und Käse und einige Stücke kaltes Fleisch, außerdem getrocknete Kirschen und viel Zwieback. Krieger hatten ihre belagerten Festungen schon mit weniger Nahrung gehalten. Für Michel war der Tischlerschuppen jetzt eine belagerte Festung und er gedachte sie gegen alle seine Feinde zu verteidigen.
Mutig wie ein Feldherr stand er an der Fensterluke und zielte mit seiner Büsse.
»Den ersten, der näher kommt, erschieße ich!«, schrie er.
»Oh, Michel, mein lieber kleiner Junge, sprich nicht so, komm raus«, bat Michels Mama. Aber das half nichts. Michel war hart wie Stein. Es half nicht einmal, dass Alfred sagte:
»Hör mal, Michel, komm raus, dann gehen wir zum See und baden, du und ich!«
»Nein«, schrie Michel bitter, »sitz du nur mit Lina auf deiner Treppe - von mir aus! Ich, ich bleib hier!«
Und dabei blieb es. Michel blieb, wo er war. Und als alles nichts half, kein Drohen und kein Flehen, da mussten sie schließlich ins Bett gehen: Michels Papa, Michels Mama und die kleine Ida.
Das war ein trauriger Samstagabend. Michels Mama und Klein-Ida weinten, dass die Tränen spritzten. Und
Michels Papa seufzte tief auf, als er ins Bett kroch, denn ihm fehlte ja sein kleiner Junge, der sonst immer dort hinten in seinem kleinen Bett lag, das wollige Haar auf dem Kissen, die Büsse und die Müsse neben sich.
Nur Lina vermisste Michel nicht und sie wollte sich auch nicht hinlegen. Sie wollte mit Alfred auf der Treppe zur Knechtshütte sitzen und sie wollte dort in Ruhe sitzen. Deshalb war sie sehr zufrieden, Michel im Tischlerschuppen zu wissen.
»Aber wer weiß, wie lange dieser verflixte Bengel wirklich drinbleibt«, brummte sie vor sich hin und dann ging sie in aller Stille zum Tischlerschuppen und schob den Riegel auf der Außenseite der Tür wieder vor.
Alfred spielte auf der Ziehharmonika und sang und bemerkte Linas Missetat nicht. »Die Husaren reiten vom Schlachtfeld heim ...«, sang Alfred. Michel hörte es. Er saß auf dem Hauklotz und seufzte tief.
Aber Lina legte die Arme um Alfreds Hals und quengelte, wie sie es immer tat, und Alfred antwortete, wie er immer antwortete: »Klar kann ich dich heiraten, wenn du unbedingt willst, aber es eilt doch nicht.« »Im nächsten Jahr aber bestimmt«, sagte Lina unerbittlich und Alfred seufzte noch tiefer als Michel und sang das Lied von der Löwenbraut. Michel hörte es auch und er dachte, wie lustig es doch wäre, mit Alfred zum See zu gehen.
»Warum eigentlich nicht?«, sagte er zu sich selbst. »Ich könnte doch wirklich auf einen Sprung mit Alfred baden gehen. Und danach kann ich ja wieder in meine Tischlerbude kriechen - wenn ich das also will.« Michel stürzte zur Tür und schob den Riegel zurück.
Aber was half das, da doch die listige Lina den Riegel an der Außenseite vorgeschoben hatte? Die Tür ging nicht auf, obwohl Michel sich mit aller Kraft dagegen warf. Da begriff er. Er wusste sofort, wer ihn eingesperrt hatte.
»Aber der werd ich’s zeigen«, sagte er. »Die wird schon sehen.«
Er guckte sich im Schuppen um, in dem es nun ziemlich dunkel wurde. Einmal, als Michel seinen schlimmsten Unfug getrieben hatte, war er durchs Fenster ausgerissen. Aber danach hatte sein Papa von außen kreuz und quer Latten über das Fenster genagelt, nur damit Michel es nicht noch einmal tat und in die Brennnesseln fallen konnte, die unter dem Fenster wuchsen. Michels Papa war wirklich besorgt um seinen kleinen Jungen und wollte nicht, dass er sich an den Brennnesseln verbrannte.
»Durchs Fenster komme ich nicht raus«, sagte Michel, »und durch die Tür auch nicht. Um Hilfe schreien will ich ums Leben nicht. Wie komme ich also raus?« Nachdenklich sah er zum offenen Kamin. Den gab es im Tischlerschuppen, damit es dort im Winter warm war und damit Michels Papa ein Feuer hatte, auf dem er, wenn es nötig war, den Kessel mit Leim aufwärmen konnte.
»Es geht nur durch den Schornstein«, sagte Michel und kletterte rasch über die Kaminumrandung mitten hinein in die Asche, die noch von den Feuern des letzten Winters liegen geblieben war und die sich nun weich um seine nackten Füße schmiegte und zwischen seine Zehen drang.
Michel guckte hinauf in den Schornstein und da entdeckte er etwas Lustiges. In dem Loch, genau über ihm, saß ein roter Julimond und guckte auf ihn herab.
»Hallo, Mond«, rief Michel, »jetzt sollst du mal einen sehen, der klettern kann!«
Und er stemmte sich gegen die rußigen Schornsteinwände und schob sich nach oben.
Wenn du jemals versucht hast, durch einen engen Schornstein zu klettern, dann weißt du, wie schwer das ist und wie schwarz man dabei wird. Aber glaub nur nicht, dass Michel das aufhalten konnte.
Lina, die Ärmste, saß neben Alfred auf der Treppe, die Arme um seinen Hals geschlungen, und ahnte nichts.
Aber Michel hatte ja gesagt, dass sie schon sehen sollte, und sie sah auch.
Plötzlich schaute sie auf, um den Mond anzusehen, und da stieß sie einen Schrei aus, der in ganz Lönne-berga zu hören war.
»Ein Gespenst!«, schrie Lina. »Auf dem Schornstein sitzt ein Gespenst!«
Vor Gespenstern hatten die Menschen in Smaland früher große Angst. Lina hatte auch Krösa-Majas schaurige Geschichten über all die Gespenster gehört, denen man begegnen konnte, und deshalb schrie sie so wild, als sie nun dort oben auf dem Schornstein eins sitzen sah, ganz schwarz im Gesicht und von oben bis unten zum Grausen.
Alfred sah sich das Gespenst auch an, aber er lachte nur.
»Das kleine Gespenst erkenne ich«, sagte er. »Komm runter, Michel!«
Michel richtete sich in seinem rußigen Hemd auf und stand nun auf dem Dach, kühn wie ein Heerführer. Er hob seine schwarze Faust zum Himmel empor und schrie, dass es über ganz Lönneberga zu hören war: »Heute Abend wird der Tischlerschuppen abgerissen und ich werde niemals mehr darin sitzen!« Alfred ging zum Tischlerschuppen und breitete die Arme aus.
»Spring, Michel«, sagte er.