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»Du kannst doch nicht so einfach gehen!«, sage ich erschüttert. »Was ist mit unserem zweiten Weihnachtsfest? Was ist mit Jess und Tom?« 

»Bestell ihnen liebe Grüße.« Und schon ist er draußen.

»Was ist los?(" rufe ich ihm hinterher. »Was ist denn passiert?« Aber er antwortet nicht, und gleich darauf höre ich die Haustür zuknallen.

»Wer ist da an der Tür?« Mums Stimme hallt den Flur entlang. »Ist da jemand?« »Das war nur Luke«, rufe ich zurück. »Er muss zur Arbeit. Es gab da einen Notfall ... »Ich höre wieder die Haustür klappern und dann Dads Stimme. »Jess! Tom! Willkommen zu Hause!« 

Jess ist da? Oh, mein Gott!

Ich renne in die Diele, gefolgt von Suze, und da ist sie schon. So lang und schlank und braungebrannt wie eh und je, das kurze Haar von der Sonne ausgeblichen, in grauem Kapuzenpulli und ausgewaschenen Jeans.

»Becky.« Sie umarmt mich, setzt ihren gigantischen Rucksack ab. »Schön, dich zu sehen. Gerade ist noch Luke an uns vorbeigehetzt. Hi, Suze.« 

»Willkommen daheim! Hi, Tom!«

»Hat schon jemand Janice angesimst?« Mum kommt aus der Küche gelaufen. »Weiß Janice Bescheid?«

»Ich rufe es über den Zaum, sagt Dad. »Geht schneller als simsen.«

»Schneller als simsen?«, erwidert Mum. »Unsinn! Eine SMS kommt sofort an, Graham. Das ist moderne Technik. «

»Du meinst, du könntest schneller eine SMS schreiben, als ich es über den Zaun rufe?«, spottet Dad. »Das will ich sehen. Bis du dein Handy raus geholt hast ... «

»Bis du rübergelaufen bist, habe ich die SMS längst abgeschickt!« Mum hat ihr Handy schon gezückt.

»Janice!«, schreit Dad, als er die Auffahrt hinunterläuft. »Janice, Tom ist da! Siehst du?«, ruft er Mum triumphierend zu. »Gute, alte Sofortkommunikation: die menschliche Stimme.«

»Ich hatte schon ganz vergessen, wie deine Eltern sind«, sagt Tom amüsiert zu mir, und ich grinse zurück. Er sieht gut aus. Markanter als vorher, unrasiert und schmaler um die Wangen. Es ist, als hätte er endlich ein Gesicht bekommen. Außerdem kaut er Kaugummi, sodass Mundgeruch kein Thema ist. »Jane«, fügt er hinzu, »ich gehe sowieso gleich rüber, also musst du meiner Mum nicht extra eine SMS ... «

Mum ignoriert ihn. »Du glaubst auch, dass eine SMS schneller geht, oder, Becky, Schätzchen?«, sagt sie entschlossen, während sie auf ihr Handy eintippt. »Sag deinem Vater, er soll aufhören, in der Steinzeit zu leben. «

Aber ich antworte nicht. Ich bin viel zu fasziniert von Jess' linker Hand, als sie den Reißverschluss an ihrem Kapuzenpulli aufzieht. Sie trägt einen Ring! An ihrem Ringfinger! Okay, es ist nicht gerade ein Solitär von Cartier. Er ist aus Knochen oder Holz oder so, mit etwas, das wie ein kleiner, grauer Kieselstein aussieht.

Dennoch, es ist ein Ring! An ihrem Verlobungsfinger!

Ich sehe Suzes Blick, und sie hat ihn offensichtlich auch bemerkt. Das ist echt cool! Noch eine Familienhochzeit! Minnie kann Brautjungfer sein!

»Was ist?« Aufmerksam sieht Mum von Suze zu mir. »Was habt ihr ... oh!« Jetzt ist auch ihr der Ring aufgefallen.

Tom ist verschwunden, und Jess beugt sich über ihren Rucksack, bemerkt uns gar nicht. Mum fängt an, lautlos etwas Langes und Kompliziertes über Jess' Kopf hinweg zu sagen. Sie wiederholt es mehrmals und zieht ein frustriertes Gesicht, weil wir sie nicht verstehen. Dann fangt sie an zu gestikulieren, und ich kriege einen Lachkrampf.

»Komm mit ins Wohnzimmer, Jess!«, presse ich hervor. »Setz dich! Du musst erschöpft sein.«

»Ich mache uns einen Tee.« Mum nickt.

Typisch Jess, sich heimlich zu verloben und keinem ein Wort davon zu sagen. Ich an ihrer Stelle wäre hereingeplatzt und hätte gerufen: »Ratet mal, was passiert ist! Seht euch meinen Kieselring an!« 

»Jess!«, hören wir Janices leicht schrille Stimme, als sie vor der Haustür ankommt. Ihr Haare sind frisch gefärbt, in knalligem Rotbraun, und sie trägt lila Lidschatten, passend zu ihren Schuhen und ihrem Armreif. »Liebchen! Willkommen daheim!«

Sofort fällt ihr Blick auf Jess' Ring. Sofort. Ihr Kinn zuckt hoch, sie holt scharf Luft, dann trifft ihr Blick Mums Miene.

Ich werde noch vor Lachen platzen, wenn ich mich nicht schnell verziehe. Ich folge Mum in die Küche, wo die Kinder allesamt vor der Kleinen Meerjungfrau sitzen. Wir machen den Tee und schmieren den Kindern ein paar Schinkensandwiches, während wir über den Ring flüstern und darüber, wann Jess und Tom es wohl allen erzählen werden.

»Wir müssen uns ganz natürlich geben«, sagt Mum, während sie zwei Flaschen Sekt ins Tiefkühlfach legt, damit es schneller geht. »SO tun, als hätten wir nichts gemerkt. Sollen sie es uns erzählen, wenn sie so weit sind. «

Ja, genau. Als wir ins Wohnzimmer kommen, sitzt Jess auf dem Sofa und nimmt offensichtlich gar nicht wahr, dass Janice, Martin, Dad und Suze, die ihr im Halbkreis gegenübersitzen, allesamt ihre linke Hand anstarren, als würde sie radioaktiv leuchten. Als ich mich setze, werfe ich einen Blick aus dem Fenster und sehe Tarquin und Ernie draußen im Garten. Tarkie macht mit den Armen seltsam werfende Bewegungen, und Ernie ahmt ihn nach. Ich stoße Suze an und sage leise:

»Ich wusste gar nicht, dass Tarkie Tai Chi macht! Er ist echt gut!« Suze fährt herum und späht aus dem Fenster. »Das ist nicht Tai Chi! Sie üben Fliegenfischen.«

Die beiden sind völlig vertieft -im Grunde sehen sie richtig niedlich aus, wie in einer Tierdoku, wenn Vater Bär seinem kleinen Bären das Jagen beibringt. (Abgesehen von dem winzigen Umstand, dass sie imaginäre Fische fangen. Mit nicht vorhandenen Angelruten.)

»Ernie hat sogar schon eine Forelle in unserem Bach gefangen!«, sagt Suze stolz. »Mit nur ganz wenig Hilfe.« Na, also. Ich wusste, dass er Talent hat. Er ist offenbar nur auf der falschen Schule. Er sollte eine Fischfängerschule besuchen.

»So!«, sagt Mum fröhlich. »Tee, Jess?«

»Ja, danke.« Jess nickt. Wir schenken Tee ein, und es folgt eine kurze Pause. So eine kleine »Hat jemand irgendwas zu verkünden?«-Pause. Aber Tom und Jess sagen nichts.

Janice hebt ihre Tasse an die Lippen, dann stellt sie sie wieder ab und atmet bebend aus, als könnte sie die Anspannung nicht mehr ertragen. Urplötzlich leuchtet ihr Gesicht auf.

»Dein Geschenk! Jess, ich hab dir eine Kleinigkeit gebastelt ... « Sie galoppiert förmlich zum Baum, hebt ein Päckchen auf und fängt an, das Geschenkpapier selbst abzureißen. »Selbst gemachte Honighandcreme«, sagt sie atemlos. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich angefangen habe, Kosmetika herzustellen, aus rein natürlichen Zutaten ... Trag sie auf«

Janice drückt Jess die Creme in die Hand. Gebannt sehen wir alle zu, wie Jess den Ring abnimmt, Handcreme aufträgt und dann den Ring wieder aufsteckt, ohne ein Wort zu sagen.

Netter versuch, Janice, möchte ich am liebsten sagen. Hätte klappen können.

»Die ist toll.« Jess schnüffelt an ihrer Hand. »Danke, Janice. Schön, dass du sie selbst gemacht hast.«

»Wir haben alle etwas Ökologisches für dich«, sagt Mum liebevoll. »Wir wissen ja, wie du bist, was Chlorbleiche und Naturfasern angeht. Wir haben alle was dabei gelernt, stimmt's, Becky?«

»Na, das freut mich.« Jess nimmt einen Schluck Tee. »Es ist doch erstaunlich, dass die westlichen Verbraucher nach wie vor so fehlgeleitet sind. «

»Ich weiß.« Mitleidig schüttle ich den Kopf. »Die haben echt keine Ahnung.«