»Oder sie könnten auch ehrlich sein.« Jasmine wirft ihr langes, blond gefärbtes Haar zurück. »Sie könnten sagen: »Ich habe kein Geld, die Scheißbank hat alles verzockt.« Bist du dir darüber im Klaren, dass der Laden hier in absehbarer Zeit zumachen wird?«, fügt sie fast fröhlich hinzu und deutet um sich. »Im Grunde ist das ganze Land geliefert. Es ist eine Riesenschweinerei. Ich ziehe wahrscheinlich nach Marokko.« Argwöhnisch mustert sie mein Hemd. »Ist das nicht von Chloe, vorletzte Saison?«
So etwas entgeht Jasmine nicht. Ich überlege, ob ich sagen solclass="underline" »Nein, das ist von einem kleinen Label, das du nicht kennst« , oder: »Ja, das ist Vintage«, als eine Stimme ängstlich sagt: »Becky?« Da ich meinen Namen höre, drehe ich mich um und staune. In der Tür steht Davina, eine meiner Stammkundinnen. Ich erkenne sie kaum wieder, im Regenmantel, mit Kopftuch und Sonnenbrille.
»Davina! Sie sind gekommen! Schön, Sie zu sehen!«
Davina ist Mitte dreißig und Ärztin am Guy's Hospital. Sie ist eine weltweit anerkannte Spezialistin für Augenkrankheiten und außerdem mehr oder weniger eine weltweit anerkannte Spezialistin für Prada-Schuhe, denn die hat sie schon mit achtzehn gesammelt. Heute hatte sie zwar einen Termin, um sich ein neues Abendkleid auszusuchen, aber nach meinem Kalender zu urteilen wurde er abgesagt.
»Ich sollte gar nicht hier sein.« Misstrauisch sieht sie sich um. »Ich habe meinem Mann versprochen, ich hätte abgesagt. Er macht sich ... Sorgen ums Geld.«
»Wie alle«, sage ich verständnisvoll. »Möchten Sie Ihren Mantel ablegen?«
Davina rührt sich nicht.
»Ich weiß nicht«, sagt sie schließlich und klingt bedrückt.« Ich sollte nicht hier sein. Wir hatten einen Streit deswegen. Er hat mich gefragt, wozu ich ein neues Kleid brauche. Und dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist, Geld aus dem Fenster zu werfen. Aber ich habe ein Forschungsstipendium vom Taylor Research Fellowship gewonnen. Meine Abteilung gibt mir zu Ehren einen Empfang.« Plötzlich fängt ihre Stimme an zu beben. »Es ist gewaltig, dieses Stipendium. Es ist eine unglaubliche Ehre. Ich habe dafür geschuftet, und ich werde nie wieder eins bekommen, und ich habe das Geld für ein Kleid. Ich habe gespart, und es ist kein Problem. Wir sind nicht mal bei der Bank of London!«
Sie klingt so aufgebracht, dass ich sie am liebsten umarmen würde. Davina nimmt nichts auf die leichte Schulter. Sie denkt über jedes Stück nach, das sie kauft, und hält sich an die gut gearbeiteten Klassiker. Wahrscheinlich freut sie sich schon seit Ewigkeiten auf dieses Kleid.
Wie gemein ihr Mann ist! Er sollte stolz auf seine Frau sein, wenn sie einen Preis bekommt.
»Wollen Sie reinkommen?«, versuche ich es noch mal. »Auf einen Kaffee?« »Ich weiß nicht«, sagt sie wieder ganz leise. »Es ist so schwierig. Ich sollte gar nicht hier sein.« »Sie sind aber hier«, gebe ich zurück. »Wann ist der Empfang?«
»Freitagabend.« Sie nimmt die Sonnenbrille ab, um ihre Stirn zu massieren, und starrt plötzlich an mir vorbei zur Kleiderstange in meinem Ankleideraum. Dort hängen alle Kleider, die ich letzte Woche für sie ausgesucht habe. Ich hatte Jasmine gesagt, sie sollte sie heute Morgen rauslegen.
Da hängen ein paar traumhafte Stücke. Injedem davon würde Davina toll aussehen. Ich sehe, wie das Verlangen in ihren Augen wächst.
»Sind das ... ?«
»Nur ein paar Optionen.«
»Ich kann nicht.« Verzweifelt schüttelt sie den Kopf. »Ich kann nicht in etwas Neuem auftauchen.« »Würde Ihr Mann denn merken, dass es neu ist?«, kann ich mir nicht verkneifen. Ich sehe, wie der Gedanke in ihr arbeitet.
»Vielleicht nicht«, sagt sie schließlich. Ihre Stirn glättet sich ein wenig ... dann runzelt sie sich wieder sorgenvoll. »Aber ich kann unmöglich mit irgendwelchen Einkaufstüten nach Hause kommen. Oder mir etwas liefern lassen. Und ich kann es mir auch nicht zur Arbeit liefern lassen. Alle meine Kollegen würden darüber reden und es sehen wollen, und das würde meinem Mann zu Ohren kommen. Das ist der Nachteil, wenn man im selben Krankenhaus arbeitet.«
»Wie wollen Sie dann ein Kleid kaufen?«, sagt Jasmine barsch. »Wenn Sie es nicht mit nach Hause nehmen und auch nicht liefern lassen können?«
»Ich weiß nicht.« Davina wirkt etwas geknickt. »Ach, es ist hoffnungslos. Ich sollte gar nicht hier sein.«
»Doch, das sollten Sie!«, sage ich energisch. »So schnell geben wir nicht auf. Kommen Sie rein, trinken Sie einen Kaffee, und sehen Sie sich die Kleider an! Und ich lasse mir derweil was einfallen.“
Im seIben Moment, als Davina Philosophy di Alberta Ferretti anzieht, wissen wir es beide. Sie muss es haben. Es ist ein Etuikleid, schwarz wie dunkle Schokolade, mit einem Hauch von Chiffon, und es kostet fünfhundert Pfund und ist jeden Penny wert.
Jetzt muss ich mir also überlegen, wie wir es machen wollen. Und bis sie wieder angezogen ist und das Sandwich aufgegessen hat, das ich ihr bestellt habe, weiß ich auch wie. Hiermit führen wir einen neuen, ganz besonderen Shopping Service bei The Look ein, den SIP (Shop In Private). Bis zum Mittag habe ich alle Arrangements für Davina getroffen und mir zusätzlich ein paar Neuerungen einfallen lassen. Ich habe sogar eine kurze E-Mail zum Thema SIP verschickt, die anfangt mit: »Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie in diesen schweren Zeiten einkaufen gehen? Brauchen Sie mehr Diskretion?«
Ich will nicht prahlen, aber ich bin ziemlich stolz auf meine Ideen. Die Kundinnen können in die Personal-Shopping-Abteilung kommen, sich neue Sachen aussuchen und dann unter folgenden, diskreten Lieferoptionen wählen:
1. Die Ware wird bei uns auf Standby gehalten und zu einem passenden Zeitpunkt (wenn niemand zu Hause ist) per Fahrradkurier zugestellt.
2. Die Sachen werden in einem Pappkarton mit der Aufschrift »Druckerpapier« oder »Hygieneartikel« geliefert.
3. Eine Mitarbeiterin (ich oder Jasmine) gibt sich als Freundin aus, die sie zu Hause besucht und die Sachen als »abgelegte Kleidung« deklariert.
4. Eine Mitarbeiterin (ich oder Jasmine) gibt sich als Putzfrau aus und versteckt die Kleider bei Ihnen zu Hause an einem vorher vereinbarten Ort.
5. Für ein größeres Entgelt bauen Mitarbeiterinnen von The Look (ich und Jasmine) an einem mit Ihnen abgesprochenen Ort einen »Wohltätigkeitsstand« auf, an dem die Kundin im Beisein ihres Ehemannes oder Partners Kleidung zu einem äußerst günstigen Preis »erwerben« kann.
* Diese Option dürfte sich vermutlich besonders für Gruppen eignen.
Davina hat sich für die »Druckerpapier«-Option entschieden. Als sie ging, leuchteten ihre Augen vor Begeisterung, und sie nahm mich fest in die Arme, sagte, sie würde mir Fotos von dem Empfang schicken, und ich hätte ihr absolut den Tag gerettet. Nun, sie hat es verdient. Sie sieht in diesem Kleid fantastisch aus, und diese Feier wird sie nie vergessen. Als ich mich auf den Weg zu meinem Lunch mit Bonnie mache, bin ich eigentlich ganz zufrieden mit mir.
Hin und wieder kommen mir allerdings gewisse Zweifel, weil ich den >Shop InPrivate<-Plan mit keinem meiner Bosse abgesprochen habe. Etwa dem Geschäftsführer oder dem Marketing-Chef. Streng genommen hätte ich mir eine neue Initiative wie diese genehmigen lassen sollen, bevor ich sie öffentlich mache. Aber das Problem ist, dass sie Männer sind. Die würden es nie verstehen. Vermutlich würden sie nur unsinnige Einwände äußern, und uns würde die Zeit weglaufen, und wir würden alle unsere Kundinnen verlieren.