Wieder diese Frau. Ja, und genau so nennt er dich, möchte ich am liebsten sagen.
Aber natürlich tue ich es nicht. Ich trinke nur meinen Tee und beobachte sie mit wachsendem Interesse. Wer weiß, was unter dieser gesprayten Frisur so vor sich geht? Hat sie die ganze Zeit an ihren Streit mit Luke gedacht? Hat sie endlich begriffen, dass sie zu weit gegangen ist? Hat sie endlich gemerkt, was sie versäumt?
Niemand ist mir undurchsichtiger als Elinor. Zu gern würde ich einmal in ihren Kopf reinklettern, einmal nur, um zu sehen, wie sie tickt.
»Ich bin ihr nur einmal begegnet.« Mit fragender Miene hebt sie den Kopf. »Sie machte auf mich keinen sonderlich kultivierten Eindruck. Und auch keinen eleganten.«
»Hast du das etwa zu Luke gesagt?«, schreie ich sie unwillkürlich wütend an. »Dass Annabel nicht kultiviert und auch nicht elegant war? Kein Wunder, dass er nichts mehr von dir wissen will. Sie war gerade erst gestorben, Elinor! Er war am Boden zerstört.«
»Nein«, sagt Elinor, und jetzt zuckt definitiv etwas unter ihrem Auge. Vermutlich ist es der einzige Quadratzentimeter, der nicht gebotoxt ist. »Das habe ich nicht gesagt. Ich versuche nur zu verstehen, weshalb er überreagiert hat.«
»Luke würde niemals überreagieren!«, erwidere ich böse.
Okay, das stimmt nicht so ganz. Ich muss zugeben, dass Luke hin und wieder gewisse Überreaktionen zeigt. Aber ehrlich. Am liebsten würde ich Elinor ihre silberne Teekanne an den Kopf knallen.
»Er hat sie geliebt«, sagt sie jetzt ... aber ich bin nicht sicher, ob es ein Statement oder eine Frage sein soll. »Ja! Er hat sie geliebt!« Ich funkle Elinor an. »Natürlich hat er das!«
»Warum?«
Argwöhnisch starre ich sie an und frage mich, ob sie damit irgendeine Spitze loslassen will, doch dann merke ich, dass es ihr ernst ist. Sie fragt mich tatsächlich, warum.
»Was meinst du damit -warum?«, fahre ich sie genervt an. »Wie kannst du das fragen, warum? Sie war seine Mutter!«
Drückende Stille macht sich breit. Meine Worte hängen in der Luft. Ich merke, wie mich ein merkwürdiges Gefühl überkommt.
Denn natürlich war Annabel nicht Lukes Mutter. Streng genommen, ist Elinor seine Mutter. Aber Annabel wusste, wie man eine Mutter ist.
Elinor hat keine Ahnung, was es mit dem Muttersein auf sich hat. Wenn sie es wüsste, hätte sie Luke und seinen Vater gar nicht erst verlassen, als Luke noch ganz klein war. Wenn sie es wüsste, hätte sie sich von ihm nicht abgewandt, an jenem Tag, als er nach New York kam, vierzehn Jahre alt. Ich werde nie vergessen, wie er mir erzählt hat, dass er draußen vor ihrem Haus stand und es nicht erwarten konnte, die mythische, glamouröse Mutter kennenzulernen, der er noch nie begegnet war. Wie sie schließlich aus der Tür trat, herausgeputzt und schön wie eine Königin. Er erzählte mir, dass sie ihn auf der anderen Straßenseite stehen sah, dass sie genau gewusst haben muss, wer er war ... aber so tat, als erkenne sie ihn nicht. Sie stieg einfach in ein Taxi und verschwand. Sie haben sich erst wiedergesehen, als er schon erwachsen war.
Von daher war er verständlicherweise besessen von Elinor, auch wenn sie ihn enttäuschte, immer und immer wieder. Annabel zeigte großes Verständnis für ihn und war unendlich geduldig und hilfsbereit -sogar noch, als Luke schon erwachsen und immer noch von Elinor wie gebannt war. Sie verstand, wie er sich fühlte. Und sie wusste zugleich auch, dass Elinor ihn verletzen würde. Annabel wollte ihn beschützen, so gut es ging, wie jede andere Mutter es auch getan hätte.
Wohingegen Elinor ... Elinor hat keine Ahnung von irgendwas.
Die eine Hälfte von mir möchte am liebsten sagen: »Weißt du was, Elinor? Vergiss es einfach, du wirst es nie begreifen.« Aber die andere Hälfte möchte sich der Herausforderung stellen. Ich möchte sie dazu bewegen, dass sie es begreift, selbst wenn es sich als unmöglich herausstellen sollte. Ich hole tief Luft und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich komme mir vor, als müsste ich ihr eine fremde Sprache beibringen.
»Annabel hat Luke geliebt«, sage ich schließlich und falte dabei meine Serviette zusammen. »Bedingungslos. Sie hat ihn für seine guten Seiten und auch für seine Fehler geliebt. Und sie wollte nichts dafür zurückhaben.«
In der ganzen Zeit, die ich Luke kenne, hat sich Elinor immer nur für ihn interessiert, wenn er etwas für sie tun sollte, wenn er Geld für irgendwelche wohltätigen Zwecke sammeln oder ein gutes Licht auf sie werfen sollte. Selbst bei der Hochzeit, die sie für uns im Plaza ausgerichtet hat, drehte sich alles nur um sie und ihre gesellschaftliche Stellung.
»Annabel hätte für Luke alles getan.« Entschlossen starre ich meine Serviette an. »Und sie hätte nie eine Gegenleistung erwartet. Sie war stolz auf seinen Erfolg, das war sie wirklich, aber sie hätte ihn immer geliebt, ganz egal, was er tat. Egal, was er erreicht hätte. Er war ihr kleiner Junge, und ihre Liebe ließ sich nicht einfach an-und wieder ausknipsen. Ich glaube, das hätte sie gar nicht gekonnt. «
Ein wenig schnürt sich mir der Hals zusammen. Obwohl wir sie kaum jemals besucht haben, hat Annabels Tod auch mich berührt. Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.
»Und übrigens, nur damit du es weißt: Sie war elegant und kultiviert«, kann ich mir nicht verkneifen, wenn auch etwas barsch. »Denn als Luke länger in New York war und dir näherkam, hatte sie immer nur Positives über dich zu sagen. Sie hat Luke so sehr geliebt, dass ihr sein Glück über alles ging. Sie hätte ihm nie gezeigt, wie gekränkt sie war. Wenn du mich fragst, würde ich das als ziemlich elegantes und kultiviertes Verhalten bezeichnen. «
Zu meinem Entsetzen werden meine Augen feucht. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Wütend wische ich daran herum und nehme Minnies Hand.
»Wir müssen los, Min. Danke für den Tee, Elinor.« Ich greife mir meine Tasche. Ich muss hier raus. Ich spare mir die Mühe, Minnie ihren Mantel anzuziehen, sondern schnappe ihn mir einfach nur, und wir sind schon fast an der Tür, als mich Elinors Stimme am Hinterkopf trifft.
»Ich würde Minnie gern wiedersehen.«
Unvermittelt drehe ich mich um und sehe sie an. Sie sitzt kerzengerade auf dem Stuhl, blass und ausdruckslos wie immer. Ich kann nicht mal sagen, ob sie überhaupt irgendwas von dem gehört hat, was ich eben gesagt habe, ganz zu schweigen davon, ob es sie erreicht hat.
»Ich wüsste ... «, Sie scheint mit sich zu ringen. »Ich wüsste deine Freundlichkeit zu schätzen, wenn du für mich ein weiteres Treffen mit Minnie arrangieren könntest.«
Sie >wüsste meine Freundlichkeit zu schätzen<. Mein Gott, wie sich die Lage doch geändert hat.
»Ich weiß nicht«, sage ich nach kurzer Pause. »Vielleicht.«
In meinem Kopf fliegt alles durcheinander. Es sollte nicht der Beginn einer regelmäßigen Vereinbarung sein. Es sollte etwas Einmaliges bleiben. Schon jetzt komme ich mir vor, als hätte ich Luke hintergangen. Und Annabel. Und alle. Was treibe ich eigentlich hier?
Gleichzeitig jedoch werde ich dieses Bild nicht los: Minnie und Elinor starren einander schweigend an, wie hypnotisiert, mit dem gleichen Blick.