Ein paar Augenblicke sehen wir uns nur an. Ich atme schwer, und meine Hand krampft sich nach wie vor um den Griff der Mülleimertür.
»Funden?« Minnies Stimme bricht den Bann. Sie steht mitten in der Küche und presst die Hände fest auf ihre Augen, um sich zu verstecken.
»Becky!« Dad erscheint in der Tür. »Liebes, komm doch mal. Du kriegst eine Lieferung.« »Oh«, sage ich verdutzt. Ich erwarte keine Lieferung. Was könnte das sein? »Funden?« Minnies Stimme bekommt etwas Klagendes.
»Funden?«
»Hab dich gefunden!«, sagen Luke und ich eilig im Chor. »Gut gemacht, Minnie!«, füge ich hinzu, als sie die Augen öffnet und uns stolz anstrahlt. »Sehr gut versteckt! Von wem ist die Lieferung?« Ich wende mich wieder Dad zu.
»Es ist ein Lieferwagen von fashionpack.co.uk«, sagt Dad, als wir ihm in die Diele folgen. »Offenbar eine ganze Menge Zeug.«
»Wirklich?« Ich runzle die Stirn. »Das kann nicht stimmen. Ich habe nicht bei fashionforward.com eingekauft. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«
Ich sehe, dass Luke mich fragend ansieht, und werde rot. »Hab ich nicht, okay? Das muss ein Irrtum sein.« »Lieferung für Rebecca Brandon«, sagt der Fahrer, als ich zur Haustür komme. »Wenn Sie hier unterschreiben würden ... « Er hält mir ein elektronisches Gerät und einen Stift hin.
»Moment mal! Ich unterschreibe überhaupt nichts. Ich habe bei fashionforward.com nichts bestellt! Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, etwas bestellt zu haben ...«
»Doch, haben Sie.“ Er klingt gelangweilt, als hätte er das schon öfter gehört. »Sechzehn Teile.«
»Sechzehn?“ Mir fällt die Kinnlade herunter.«
»Ich kann Ihnen die Quittung zeigen, wenn Sie wollen.« Er verdreht die Augen und macht sich auf den Weg zum Lieferwagen.
Sechzehn Teile?
Okay, da stimmt was nicht. Wie kann ich sechzehn Teile bei fashionforward.com bestellt haben, ohne mich daran zu erinnern? Kriege ich langsam Alzheimer?
Eben habe ich noch so getan, als hätte ich mich des Shoppens schuldig gemacht, und jetzt wird alles wahr, wie in einem bösen Traum. Wie kann das sein? Habe ich es irgendwie wahr gemacht?
Plötzlich sehe ich, dass Luke und Dad sich über meinen Kopf hinweg ansehen.
»Ich habe nichts gemacht!“, sage ich erschüttert. »Ich habe nichts bestellt! Das muss irgendwie ein komischer Computerfehler sein.«
»Becky, nicht schon wieder ein Computerfehler«, sagt Luke geknickt. »Das ist keine Ausrede! Es stimmt! Ich hab das Zeug nicht bestellt.«
»Na ja, irgendjemand muss es ja offensichtlich ...«
»Vielleicht hat ein Fremder meine Daten benutzt. Oder vielleicht war ich im Schlaf shoppen!«, sage ich.
Oh, mein Gott. Also das klingt total einleuchtend. Es erklärt alles. Ich bin insgeheim eine Schlafshopperin. Ich sehe mich förmlich, wie ich leise aus meinem Bett steige, mit glasigem Blick die Treppe hinuntergehe, mich am Computer einlogge, meine Kreditkartendaten eintippe ...
Aber wieso habe ich dann nicht diese tolle Tasche von Net-a Porter gekauft, nach der ich mich förmlich verzehre? Hat mein schlafshoppendes Ich denn keinen Geschmack?
Könnte ich meinem schlafshoppenden Ich eine Nachricht schicken? »Im Schlaf shoppen?« Luke zieht eine Augenbraue hoch. »Das ist neu.«
»Nein, ist es nicht«, erwidere ich. »Schlafwandeln ist ein weitverbreitetes Leiden, wie du feststellen wirst, Luke. Und ich vermute, Schlafshoppen ist es auch.«
Je mehr ich über diese Theorie nachdenke, desto sicherer bin ich, dass sie stimmt. Es würde so vieles in meinem Leben erklären. Tatsächlich bin ich direkt etwas genervt von all den Leuten, die mir im Laufe der Jahre das Leben schwer gemacht haben. Ich wette, sie würden sich ganz anders äußern, wenn sie wüssten, dass ich an einer derart seltenen Krankheit leide.
»Es ist sehr gefährlich, eine Schlafshopperin zu wecken, während sie sich in Trance befindet«, teile ich Luke mit. »Sie könnte glatt einen Herzschlag kriegen. Man muss sie einfach machen lassen.« »Verstehe.« Lukes Mundwinkel zuckt. »Wenn ich also sehe, wie du online im Pyjama die komplette Jimmy-Choo-Kollektion kaufst, soll ich einfach an mich halten und dich machen lassen, weil du sonst einen Herzinfarkt kriegst?«
»Nur wenn es mitten in der Nacht ist und ich so einen glasigen Blick habe«, erkläre ich.
»Mein Liebling.« Luke lacht kurz auf. »Es ist immer mitten in der Nacht, und du hast immer einen glasigen Blick.«
Der hat vielleicht Nerven.
»Ich habe keinen glasigen Blick!«, gebe ich wütend zurück, als der Mann vom Lieferwagen wiederkommt. »Hier, bitte schön.« Er hält mir einen Zettel hin. »Sechzehn Miu-Miu-Mäntel in Grün.« »Sechzehn Mäntel?« Ungläubig starre ich auf das Blatt Papier. »Wozu um alles in der Welt sollte ich sechzehn Mäntel bestellen, noch dazu alle in derselben Farbe und Größe?«
Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir diesen Mantel im Internet angesehen und sogar in meinen Warenkorb gelegt, aber ich habe doch nicht ernstlich ...
Ich erstarre mitten im Gedanken. Plötzlich sehe ich ein schreckliches Bild vor mir. Mein Notebook, offen in der Küche. Die Website aufgerufen. Minnie klettert auf einen Stuhl ...
Oh, mein Gott, das kann sie doch nicht gemacht haben! »Minnie, hast du die Tasten auf Mamis Computer gedrückt?« Entsetzt starre ich sie an. »Das ist nicht dein Ernst.« Luke versteht die Welt nicht mehr. »Das könnte sie doch gar nicht!«
»Könnte sie wohl! Sie kann ganz leicht eine Maus bedienen. Und fashionforward hat einen One Click Button. Wenn sie nur oft genug auf die Tastatur einschlägt und ihn angeklickt ... «
»Du meinst, Minnie hat das alles bestellt?« Dad sieht genauso perplex aus.
»Tja, wenn ich es nicht war und Luke es nicht ... «
»Wo soll ich die Sachen hinstellen?«, unterbricht uns der Paketbote. »Drinnen?« »Nein!« Ich will sie nicht haben! Sie müssen sie wieder mitnehmen.«
»Kann ich nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Wenn Sie das Zeug retournieren wollen, müssen Sie es annehmen, das entsprechende Formular ausfüllen und dann die Ware zurückschicken.«
»Aber wozu soll ich sie annehmen?«, sage ich frustriert. »Ich will sie nicht.«
»Also wenn Sie das nächste Mal etwas nicht wollen, darf ich Ihnen dann vorschlagen, dass Sie es vielleicht gar nicht erst bestellen?«, sagt der Bote und lacht heiser über seinen eigenen Scherz. Gleich darauf hebt er eine große Kiste hinten aus dem Lieferwagen. Sie ist etwa so groß wie Dad.
»Sind das alle? Ist ja gar nicht so schlimm, wie ich dachte ... «
»Das ist nur einer«, korrigiert mich der Mann. »Die Dinger kommen einzeln verpackt und werden mit Kleiderständer geliefert.« Schon hievt er den nächsten Karton heraus. Entsetzt starre ich ihn an. Was sollen wir mit sechzehn Mänteln in riesigen Kartons anfangen?
»Du bist ein unartiges kleines Mädchen, Minnie.« Ich kann es mir nicht verkneifen, meine Verzweiflung an ihr auszulassen. »Man bestellt keine Miu-Miu-Mäntel im Internet! Und ich werde ... ich werde ... dir diese Woche dein Taschengeld streichen!«
»Meeeiiin Karton!« Sehnsüchtig greift Minnie nach den Kisten, noch immer mit ihrem Honigbrot in der Hand.
»Was ist das alles?« Mum erscheint in der Haustür. »Was sind das für Sachen?« Sie deutet auf die mächtigen Kartons. Sie sehen aus wie aufrecht stehende Särge, so in Reih und Glied.
»Es gab ein Missverständnis«, sage ich eilig. »Die bleiben nicht hier. Ich schicke sie so bald wie möglich zurück.« »Das sind acht. ... « Der Mann setzt den nächsten Karton ab. Ich sehe ihm an, dass er seinen Spaß hat. »Insgesamt sind es sechzehn«, sagt Dad. »Vielleicht können wir ein paar davon in der Garage unterstellen.«
»Aber die Garage ist voll!«, sagt Mum.
»Oder im Esszimmer ... «
»Nein.« Mum schüttelt heftig den Kopf. »Nein. Nein. Becky, jetzt reicht es aber wirklich. Hörst du mich? Es reicht! Wir können nicht noch mehr von deinem Zeug unterbringen!«
»Es ist doch nur für ein, zwei Tage ... «
»Das sagst du immer! Das hast du auch gesagt, als du hier eingezogen bist! Wir können nicht mehr! Wir kommen damit nicht mehr zurecht!« Sie klingt hysterisch.
»Es sind doch nur noch zwei Wochen, Jane.« Dad nimmt sie bei den Schultern. »Jetzt komm schon! Zwei Wochen. Wir schaffen das. Wir zählen die Tage, wie beim Countdown, ja? Ein Tag nach dem anderen. Okay?«
Es ist, als spräche er ihr während der Wehen Mut zu oder im Kriegsgefangenenlager. Wenn wir bleiben, ist das also wie in Kriegsgefangenschaft?
Plötzlich beutelt mich die Scham. Ich kann es Mum nicht länger zumuten. Wir müssen woandershin. Wir müssen ausziehen, bevor Mum total durchdreht.
»Es sind keine zwei Wochen mehr!«, sage ich hastig. »Es sind ... zwei Tage! Ich wollte es dir schon erzählen. Wir ziehen in zwei Tagen aus!«
»In zwei Tagen?«, wiederholt Luke ungläubig.
»Ja, in zwei Tagen!« Ich meide seinen Blick.
Zwei Tage müssten reichen, um zu packen. Und eine Mietwohnung zu finden. »Was?« Mum hebt ihren Kopf von Dads Brust. »Zwei Tage?« »Ja! Urplötzlich hat sich alles mit dem Haus geklärt, und wir ziehen aus. Ich wollte es dir schon erzählen.«
»Ihr zieht wirklich in zwei Tagen aus?«, stammelt Mum, als wenn sie es nicht glauben könnte. »Versprochen.« Ich nicke. »Halleluja«, sagt der Paketbote. »Wenn Sie vielleicht unterschreiben würden, Madam?« Plötzlich dreht er sich zu seinem Lieferwagen um. »He! Junges Fräulein!« Ich folge seinem Blick und stöhne auf. Scheiße. Minnie ist auf den Fahrersitz geklettert. »Auto!«, schreit sie begeistert, mit beiden Händen am Lenkrad. »Meeeiiinn Auto!«
»Entschuldigung!« Ich renne hinüber, um sie herauszuholen. »Minnie, was um alles in der Welt machst du ... « Ich halte mir den Mund zu.
Das ganze Lenkrad ist mit Honig vollgeschmiert. Honig und Krümel verzieren den Sitz und die Scheibe und den Ganghebel.
»Minnie!«, fauche ich böse. »Du unartiges Mädchen! Was hast du getan?« Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. »Wo ist dein Sandwich? Was hast du damit gemacht? Wohin hast du ... ?«
Mein Blick fällt auf das eingebaute Kassettendeck.
Oh ... auch das noch.
Der Fahrer war erstaunlich nett, angesichts der Tatsache, dass er gerade sechzehn Mäntel an jemanden ausgeliefert hatte, der sie nicht wollte und dessen Tochter ein Honigbrot in sein Kassettendeck geschoben hatte. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, alles sauber zu machen, und wir haben ihm einen nagelneuen Ersatz versprochen.
Als der Lieferwagen auf die Straße einbiegt, gehen Mum und Dad in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, und Luke zerrt mich förmlich die Treppe hinauf.
»Zwei Tage?«, flüstert er. »Wir ziehen in zwei Tagen aus?«
»Wir müssen, Luke! Hör zu, ich hab alles schon geplant. Wir suchen uns eine Mietwohnung und sagen Mum, wir ziehen in das Haus ein, und alle sind zufrieden.«
Luke glotzt mich an, als hätte ich eine Schraube locker. »Aber sie wird uns besuchen wollen, Becky. Hast du das denn nicht bedacht?«
»Das lassen wir nicht zu! Wir schieben es so lange hinaus, bis das mit dem Haus geklärt ist. Wir sagen, wir wollen, dass vorher alles perfekt ist. Luke, wir haben keine Wahl«, füge ich hinzu. »Wenn wir hier noch länger bleiben, kriegt sie einen Nervenzusammenbruch.«
Luke murmelt irgendetwas vor sich hin. Es klingt ein bisschen wie: »Demnächst kriege ich einen Nervenzusammenbruch.«
»Hast du denn eine bessere Idee?«, erwidere ich, doch Luke schweigt . »Und was ist mit Minnie?«, sagt er schließlich . »Was soll mit Minnie sein? Die kommt natürlich mit!«
»Das meine ich nicht.« Er schnalzt mit der Zunge. »Ich meine, was wollen wir mit ihr machen? Ich gehe doch davon aus, dass du dir genauso große Sorgen machst wie ich, nach allem, was da eben vorgefallen ist, oder?«
»Das mit dem Honigbrot?«, sage ich erstaunt. »Komm schon, Luke, entspann dich! So was kommt vor. Alle Kinder machen ...«
»Du willst es einfach nicht sehen, Becky! Sie wird jeden Tag wilder. Ich glaube, wir müssen zu härteren Bandagen greifen. Meinst du nicht auch?«
Härtere Bandagen? Was soll das denn heißen?
»Nein, meine ich nicht.« Es läuft mir kalt über den Rücken. »Ich finde nicht, dass sie »härtere Bandagen« braucht, egal was du damit auch meinen magst.«
»Nun, aber ich.« Er sieht ernst aus und will mir nicht in die Augen sehen. »Ich werde ein paar Leute anrufen.«
Was für Leute?
»Luke, Minnie ist kein schwieriger Fall«, füge ich an, und plötzlich fangt meine Stimme an zu beben. »Und wen willst du überhaupt anrufen? Du solltest niemanden anrufen, ohne es mir vorher zu erzählen!«
»Du würdest nur sagen, dass ich es nicht tun soll!« Er klingt verzweifelt. »Becky, einer von uns beiden muss was unternehmen. Ich werde mich mit ein paar Kinderexperten in Verbindung setzen.« Er zückt seinen BlackBerry und wirft einen Blick darauf, und irgendwas in mir flippt aus.
»Was für Experten denn? Was meinst du damit?« Ich greife mir seinen BlackBerry. »Sag es mir!« »Gib den her!« Seine Stimme wird harsch, als er mir den BlackBerry aus der Hand reißt.
Erschrocken starre ich ihn an, und plötzlich pocht das Blut in meinen Wangen. Es war sein Ernst. Er wollte nicht, dass ich es sehe. Geht es um Minnie? Oder ... irgendwas anderes?
»Was soll die Geheimniskrämerei?«, sage ich schließlich. »Luke, was verbirgst du vor mir?«
»Nichts«, sagt er stur. »Es ist noch zu unausgegoren. Grobe Ideen für die Arbeit. Heikles Zeug. Ich möchte nicht, dass jemand es sieht.«
Ja, genau. Sein Blick geht immer wieder zu seinem BlackBerry. Er lügt. Ich weiß es.
»Luke, du verheimlichst mir etwas.« Ich schlucke trocken. »Ich weiß es genau. Wir sind verheiratet! Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben!«
»Das musst du gerade sagen!« Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Meine Liebste, ich weiß nicht, ob es ums Shoppen oder um Schulden geht oder ob du wirklich Botox kriegst. .. aber irgendetwas geht hier vor sich, von dem ich nichts wissen soll. Oder?«
Mist.
»Nein, das stimmt nicht!«, sage ich entrüstet. »Echt nicht!«
Bitte lass ihn glauben, dass es ums Shoppen geht, bitte lass ihn glauben, dass es ums Shoppen geht ...
Es folgt eine betretene, kribbelige Pause, dann zuckt Luke mit den Schultern.
»Gut. Na, dann ... haben wir ja beide nichts zu verbergen.«
»Gut.« Ich hebe mein Kinn. »Abgemacht.«