Einen Moment schweigen wir beide. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll.
»Luke«, beginne ich zögerlich.
»Ich habe ihr allen Ernstes ein Weihnachtsgeschenk gekauft.« Er presst die Fäuste an seine Schläfen. »Verliere ich jetzt langsam den Verstand?«
»Natürlich verlierst du nicht den Verstand! Du bist nur ... « Hilflos stocke ich und wünschte, ich hätte etwas Kluges und Profundes zu sagen. Verzweifelt versuche ich, mich an irgendwas aus diesem Buch über die Kunst des Trauerns zu erinnern, das ich extra gekauft habe.
Denn das ist das andere Schlimme, was in diesem Jahr passiert ist. Lukes Stiefmutter ist im Mai gestorben. Sie war nur einen Monat krank, dann war sie plötzlich nicht mehr da, und Luke war sechs Monate am Boden zerstört.
Ich weiß, dass Annabel nicht seine leibliche Mutter war, aber sie war seine wahre Mum. Sie hat ihn aufgezogen, und sie verstand ihn wie niemand sonst, und das Schlimmste ist, dass er sie vor ihrem Tod kaum besuchen konnte. Auch als sie schon richtig krank war, konnte er nicht alles stehen und liegen lassen und nach Devon hetzen, weil er diese Anhörungen in London hatte, die schon so oft vertagt worden waren, dass man sie unmöglich noch mal verschieben konnte.
Er darf deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Das habe ich ihm schon hunderttausend Mal gesagt. Es hätte nichts geändert. Aber ich weiß, dass er sich trotzdem schuldig fühlt. Und jetzt ist sein Dad bei seiner Schwester in Australien. Was heißt, dass Luke nicht mit ihm zusammen sein und alles wiedergutmachen kann.
Was seine richtige Mutter angeht ... die wird bei uns nicht mehr erwähnt.
Niemals.
Lukes Beziehung zu EIinor war schon immer eher eine Hassliebe. Was leicht nachvollziehbar ist, da sie ihn und seinen Dad verlassen hat, als Luke noch ganz klein war. Aber die beiden gingen eigentlich ganz zivilisiert miteinander um, bis sie es vergeigt hat, und zwar richtig.
Es muss irgendwann kurz nach der Beerdigung gewesen sein, als er sie wegen irgendeiner familiären Angelegenheit besucht hat. Ich weiß bis heute nicht genau, was sie eigentlich zu ihm gesagt hat. Irgendwas über Annabel. Irgendetwas Unsensibles und -wie ich vermute -wahrscheinlich bodenlos Taktloses. Er hat es mir weder im Detail erzählt, noch ist er je wieder auf den Zwischenfall zu sprechen gekommen -ich weiß nur, dass ich ihn noch nie so kreidebleich gesehen habe, so starr vor Zorn. Und seitdem wird Elinors Name nicht mehr erwähnt. Ich glaube kaum, dass er sich je wieder mit ihr versöhnt, in seinem ganzen Leben nicht. Was mir nur recht ist.
Als ich zu Luke aufblicke, spüre ich, wie sich mir das Herz zusammenkrampft. Der Stress des letzten Jahres hat ihm zugesetzt. Zwischen seinen Augen hat er zwei kleine Falten, die nicht mal verschwinden, wenn er lächelt oder lacht. Es ist, als könnte er nie mehr hundertprozentig glücklich aussehen.
»Komm schon!« Ich schlinge meinen Arm durch seinen und drücke ihn an mich.« Sehen wir uns den Weihnachtsmann an!«
Während wir so gehen, lenke ich Luke unauffällig auf die andere Seite des Einkaufszentrums. Ohne bestimmten Grund eigentlich. Nur weil die Läden hübscher sind. Wie zum Beispiel der Goldschmied ... und dieser Laden mit den Seidenblumen und Enfant Cocotte, wo es handgefertigte Schaukelpferde und Designer-Bettchen aus Palisander gibt.
Meine Schritte sind immer langsamer geworden, und ich gehe auf das hell erleuchtete Schaufenster zu, getrieben von einem unbestimmten Verlangen. Sieh sich einer diese entzückenden Sachen an! Die winzigen Strampler und die kleinen Deckchen!
Wenn wir noch ein Baby hätten, könnten wir uns nagelneue Deckchen kaufen. Und es wäre voll schnuckelig und niedlich, und Minnie könnte helfen, ihr Geschwisterchen im Kinderwagen herumzuschieben, und wir wären eine richtige Familie ...
Ich blicke zu Luke auf, um nachzusehen, ob er vielleicht dasselbe denkt wie ich und mir mit sanftem, liebevollem Blick in die Augen sieht. Stattdessen starrt er stirnrunzelnd auf seinen BlackBerry. Also, ehrlich. Wieso geht er nicht mehr auf meine Gedanken ein? Wir sind doch verheiratet, oder nicht? Er sollte mich verstehen. Er sollte merken, wieso ich ihn zu einem Babyladen führe.
»Das ist doch echt süß, oder?« Ich zeige auf ein Teddybär Mobile.
»Mmmhmm.« Luke nickt, ohne aufzublicken.
»Wow! Guck dir mal den Kinderwagen an!« Begehrlich deute ich auf ein atemberaubendes Hi-Tech-Vehikel mit dicken Rädern, die aussehen, als stammten sie von einem Hummer. »Ist der nicht toll?«
Wenn wir noch ein Baby bekämen, könnten wir auch einen neuen Kinderwagen kaufen. Ich meine, wir müssten sogar einen neuen haben. Die klapprige, alte Kiste, die Minnie hatte, ist total im Eimer. (Nicht, dass ich noch ein Baby möchte, nur um eine coole Karre zu kaufen. Aber es wäre so was wie ein Bonus.)
»Luke.« Ich räuspere mich.»Ich dachte gerade ... so ... über uns. Ich meine ... uns alle. Unsere Familie. Einschließlich Minnie. Und da habe ich mich gefragt ... «
Er hebt eine Hand und hält seinen BlackBerry ans Ohr.
»Ja, hi«
Gott im Himmel, ich hasse diese Stummschaltung. Man wird kein bisschen vorgewarnt, wenn er einen Anruf bekommt.
»Bin gleich wieder bei dir», sagt sein Mund lautlos zu mir, dann wendet er sich wieder seinem BlackBerry zu. »Jo, Gary, ich hab deine E-Mail bekommen.«
Okay, jetzt ist also nicht der richtige Moment, den Kauf eines Kinderwagens für ein noch zu zeugendes, zweites Baby zu besprechen.
Na gut. Dann verschiebe ich es eben auf später.
Während ich zur Werkstatt des Weihnachtsmanns laufe, wird mir plötzlich bewusst, dass ich Minnies Auftritt unter Umständen gerade verpasse, und ich fange an zu rennen. Als ich jedoch keuchend um die Ecke schliddere, sitzt der Weihnachtsmann noch nicht mal wieder auf seinem Thron.
»Becky!« Mum winkt ganz vorn in der Schlange.»Wir sind die Nächsten! Ich hab den Camcorder schon bereit ... oh, guck mal!«
Eine Elfe mit breitem, leerem Lächeln hat die Bühne erklommen. Sie strahlt in die Runde und tippt ans Mikrofon, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen .
»Hallo, liebe Kinder!«, ruft sie. »Ruhe bitte! Der Moment für eure Weihnachtswünsche ist gekommen! Wir ziehen den Wunsch eines Glückskindes, den der Weihnachtsmann dann ganz bestimmt erfüllen wird! Einen Teddy vielleicht? Oder ein Puppenhaus? Oder einen Scooter?«
Das Mikrofon funktioniert nicht richtig, und genervt tippt sie noch mal dagegen. Dennoch geht eine Woge der Aufregung durchs Publikum, und alles drängt nach vorn. Camcorder werden geschwenkt, und kleine Kinder drängen mit leuchtenden Augen zwischen den Beinen der Leute hindurch, um etwas sehen zu können.
»Minnie!«, sagt Mum aufgewühlt. »Was hast du dir gewünscht, Liebes? Vielleicht wählen sie dich aus!«
»Und gewonnen hat ... Becky! Bravo, Becky!« Die plötzlich verstärkte Stimme der Elfe lässt mich zusammenzucken.
Nein. Das kann nicht sein ...
Es muss eine andere Becky sein. Bestimmt gibt es haufenweise kleine Mädchen, die Becky heißen ...
»Und die kleine Becky hat sich gewünscht. .. « Blinzelnd betrachtet sie den Wunschzettel. »Ein Zac-Posen-Top in Aquamarin, das eine mit der Schleife, Größe 36.«
»Mist.«
»Ist Zac Posen eine Figur aus einer neuen Fernsehserie?« Ratlos wendet sich die Elfe einer Kollegin zu. »Ist das so was wie ein Brummkreisel?« ,
Ehrlich, wie kann man in einem Kaufhaus arbeiten und noch nie von Zac Posen gehört haben?