Ich meine, es ist komplett berechenbar, und nur komplette Vollidioten fallen auf ihre Tricks rein.
Und jetzt will sie das Drama wahrscheinlich noch verschärfen und alle Kinder in ein Boot Camp schicken, irgendwo in der Wüste, in Utah oder Arizona, denn das macht sich dann im Fernsehen noch viel besser, wenn sie sich alle am Ende wiedersehen.
Tja, nicht mit mir. Nie im Leben.
Ich sehe mich in der Küche um und prüfe nach, ob alles an seinem Platz ist. Ich habe eine riesige Tafel am Kühlschrank aufgehängt, auf der Minnie goldene Sternchen für gutes Benehmen sammeln kann, und die unterste Treppenstufe mit »Stille Treppe« ausgeschildert, und auf dem Tisch liegt ein ganzer Haufen pädagogisch wertvolles Spielzeug. Aber mit etwas Glück tut meine erste Breitseite gleich ihre Wirkung und es kommt gar nicht erst so weit.
Auf keinen Fall darf man bei Nanny Sue sagen: »Mein Kind hat keinerlei Probleme.« Denn dann knöpft sie sich einen vor und findet garantiert welche. Also werde ich schlauer sein.
Es klingelt an der Tür, und ich zucke zusammen. »Komm mit, Min«, murmle ich. Gehen wir und schaffen uns die böse Kinderexpertin vom Hals!«
Ich mache die Tür auf, und da steht sie. Nanny Sue höchstpersönlich, mit ihrem typischen, blonden Bob, hübschen, zarten Zügen und rosa Lippenstift. In echt sieht sie viel kleiner aus und trägt Jeans, eine gestreifte Bluse und eine wattierte Jacke, wie eine Reiterin. Ich dachte, sie käme in ihrer blauen Uniform mit dem Hut, wie im Fernsehen. Fast erwarte ich schon, dass die Titelmusik einsetzt und eine Stimme aus dem Off sagt: »Heute wurde Nanny Sue zum Haus der Brandons gerufen ...«
»Rebecca? Ich bin Nanny Sue«, sagt sie mit ihrem altbekannten, singenden Tonfall aus dem Südwesten Englands.
»Nanny Sue! Gott sei Dank! Wie bin ich froh, dass Sie gekommen sind!«, sage ich dramatisch. »Wir wissen überhaupt nicht mehr, was wir machen sollen! Sie müssen uns helfen, und zwar so schnell wie möglich!«
»Ach, ja?« Nanny Sue macht einen verdutzten Eindruck. »Ja! Hat mein Mann Ihnen denn nicht gesagt, wie verzweifelt wir sind? Das ist unsere Minnie. Sie ist zwei.«
»Hallo, Minnie. Wie geht es dir?« Nanny Sue hockt sich hin, um mit Minnie zu sprechen, und ich warte ungeduldig, bis sie sich wieder erhebt.
»Sie glauben ja nicht, was für Probleme wir mit ihr hatten. Es ist beschämend. Blamabel geradezu. Ich mag es kaum zugeben.« Ich lasse meine Stimme beben. »Sie weigert sich zu lernen, wie man sich die Schuhe zubindet. Ich habe es versucht ... mein Mann hat es versucht ... alle haben es versucht. Aber sie tut es einfach nicht!«
Es folgt eine Pause, während der ich weiter die besorgte Mutter spiele. Nanny Sue wirkt etwas erstaunt. Ha!
»Rebecca«, sagt sie. »Minnie ist noch sehr jung. Von einem zweijährigen Kind sollte man nicht erwarten, dass es sich die Schuhe selbst zubinden kann.«
»Oh!« Augenblicklich strahle ich sie an. »Ach, ich verstehe. Na, dann ist ja alles in Ordnung! Andere Probleme haben wir mit ihr nicht. Vielen Dank, Nanny Sue, bitte schicken Sie meinem Mann die Rechnung. Ich sollte Sie nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen. «
Bevor sie noch etwas sagen kann, knalle ich ihr die Tür vor der Nase zu.
Sieg! Ich klatsche Minnie ab und will mir schon in der Küche ein Belohnungs-Kit -Kat genehmigen, als es wieder an der Tür klingelt.
Ist sie gar nicht weggegangen?
Ich spähe durch den Spion, und da steht sie, wartet geduldig auf der Treppe. Was will sie? Sie hat unsere Probleme gelöst. Sie kann gehen. »Rebecca?« Ihre Stimme dringt durch die Tür. »Sind Sie da?« »Hallo!«, ruft Minnie. »Schscht!«, zische ich. »Sei still!« »Rebecca, Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Tochter zu begutachten und Ihnen beiden meine Einschätzung zu unterbreiten. Das ist mir auf Grundlage einer einminütigen Begegnung kaum möglich.«
»Sie muss nicht begutachtet werden!«, rufe ich durch die Tür zurück.
Nanny Sue reagiert nicht, sondern steht nur da und wartet mit dem gleichen geduldigen Lächeln. Will sie denn keinen freien Tag haben?
Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht so richtig weiter. Ich dachte, sie würde einfach abhauen. Was ist, wenn sie Luke erzählt, dass ich sie nicht reinlassen wollte? Was ist, wenn es am Ende wieder einen Riesenkrach gibt?
Oh, Gott. Vielleicht ist es einfacher, wenn ich sie reinlasse, sie ihre sogenannte »Beurteilung« macht und ich sie auf diesem Wege loswerde.
»Na, schön.« Ich reiße die Tür auf. »Kommen Sie rein! Aber meine Tochter hat keine Probleme. Und ich weiß genau, was Sie vorhaben und was Sie gleich sagen werden. Und eine Stille Treppe haben wir auch schon.«
»Du meine Güte ...« Nanny Sues Augen blitzen kurz auf. »Sie sind ja glänzend vorbereitet, was?« Sie tritt ein und lächelt erst Minnie an, dann mich. »Bitte machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Ich möchte mir nur einen ganz normalen Tag bei Ihnen beiden ansehen. Verhalten Sie sich wie immer, und tun Sie, was Sie sonst auch tun würden. Ich möchte sehen, wer die Brandons wirklich sind.<<
Ich wusste es! Sie hat uns die erste Falle gestellt. Im Fernsehen hat die Familie entweder keinen Plan für den Tag, oder das Kind weigert sich, den Fernseher auszumachen, und alle fangen an zu streiten. Aber ich bin ihr so was von voraus. Ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet, für alle Fälle. Offen gesagt habe ich ihn mit Minnie geprobt.
»Hm, ich weiß nicht«, sage ich nachdenklich. »Was meinst du, Minnie? Wollen wir zusammen etwas backen?« Ich schnalze mit der Zunge. »Ach, da fallt mir ein, dass wir gar kein mühlsteingemahlenes Bio-Mehl mehr haben. Vielleicht könnten wir aus Pappkartons kleine Häuser basteln. Die könntest du dann mit bleifreier Farbe anmalen ...«
Vielsagend sehe ich Minnie an. Das ist ihr Stichwort. Sie solclass="underline" »Laufen! Natur!«, sagen. Ich habe es mit ihr eingeübt und alles. Stattdessen starrt sie sehnsüchtig zum Fernseher im Wohnzimmer hinüber.
»Peppa Wutz«, sagt sie. »Mein Peppa Wutz ... «
»Wir können uns heute keine echten Schweinchen ansehen, Schätzchen!«, unterbreche ich sie hastig. »Aber machen wir doch einen kleinen Spaziergang durch die Natur und diskutieren über die Umwelt!«
Ich bin richtig stolz auf meine Idee mit dem Spaziergang durch die Natur. Es ist pädagogisch wertvoll und total einfach. Man muss nur hinterhertapern und hin und wieder sagen: »Da ist eine Eichel! Da ist ein Eichhörnchen!« Und schon wird Nanny Sue ihre Niederlage eingestehen. Sie muss uns Höchstnoten geben und zugeben, dass es an einer perfekten Familie einfach nichts zu verbessern gibt, und dann kann Luke nichts mehr sagen.
Als ich Minnie ihre Stiefel angezogen habe (klitzekleine UGGs, total niedlich), greife ich in meine Tasche und hole vier dunkelgraue Samtbänder hervor, die ich jeweils am Ende mit einem Klettverschluss versehen habe. Gestern Abend habe ich diese Teile gebastelt, und sie sehen echt hübsch aus.
»Wir sollten lieber unsere Stillen Schleifehen mitnehmen«, sage ich großspurig.
»Stille Schleifehen?«, erkundigt sich Nanny Sue höflich.
»Ja, mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihrer Fernsehsendung die Stille Treppe nicht zum Einsatz bringen können, wenn Sie unterwegs sind. Deshalb habe ich >Stille Schleifehen< gemacht. Ganz einfach, aber wirkungsvoll. Man klettet sie einfach an die Jacke des Kindes, wenn es unartig war.«
»Verstehe.« Nanny Sue äußert keine Meinung, aber das liegt bestimmt daran, dass sie vor Neid innerlich brodelt und wünschte, sie wäre selbst darauf gekommen.