Er rollte noch immer nach links. Mein Gott. Was nun?
Gerade als er das Manöver beenden wollte, hatte das MH96 wieder versagt und das automatische FRS deaktiviert.
Um die Rotation der Maschine zu stoppen, ließ er die rechte Rollkorrektur-Düse für weitere acht Sekunden feuern. Doch die Luft war hier oben so dünn, daß die aerodynamische Lageregelung nur noch bedingt funktionierte und träge ansprach. Er ließ die Gierkorrektur-Düsen des manuellen FRS feuern.
Stone spürte, wie der Schweiß sich unter den Augen sammelte. Er kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe; ein Problem jagte das andere.
Plötzlich sprang das MH96 wieder an, und mit ihm das automatische FRS. Stone betätigte erneut die manuelle Gierkontrolle, um den Kurs zu korrigieren. Zunächst wirkte das System der Gierneigung anscheinend korrekt entgegen - doch dann setzte das verdammte Gerät wieder aus, und der Referenzwert wurde überschritten.
Zu allem Überfluß rotierte nun auch noch die Kugel der Rollanzeige. Er rollte wieder nach links. Er versuchte, das mit drei Stößen der manuellen Rollkontrolle auszugleichen, doch er überzog die Maschine und rollte nun nach rechts.
Achtzig Kilometer hoch. Der Himmel war nun blauschwarz getönt, und die Instrumentenbeleuchtung strahlte wie der Lichterschmuck an einem Weihnachtsbaum. Am Horizont sah er die dicke Luftschicht, die er durchstoßen hatte. Er hatte einen Blick auf die Westküste der USA, von San Francisco bis hinunter nach Mexiko. In der klaren Luft breitete die Erde sich wie eine Reliefkarte unter ihm aus.
Drei Minuten dreiundzwanzig Sekunden. Die Gierneigung beschleunigte sich und betrug nun fünf bis sechs Grad pro Sekunde. Und die Kursabweichung von der B-52 betrug bereits fünfzig Grad. Bei dieser extremen Fluglage drohte die Maschine abzuschmieren. Sie rollte nach links. Er lief Gefahr, ins Trudeln zu geraten und unkontrolliert in die Atmosphäre einzutreten.
Und wenn das geschah, würde er sich in einer qualmenden Ellipse mit einer Länge von zehn Meilen und einer Breite von einer Meile über die Wüste verteilen.
Um das Rollen zu kompensieren, betätigte er bei vollem Querruderausschlag nach links das linke FRS. Mehr konnte er nicht tun. Doch das Rollen schien sich nur noch zu verstärken. Und nun nickte die Maschine auch noch.
Der sternenübersäte Himmel und die glühende Wüste unter ihm drehten sich immer schneller um das Cockpit, während er hektisch die Steuerung betätigte.
Zweihundertvierzigtausend Fuß über dem Boden geriet die -noch immer mit Überschallgeschwindigkeit fliegende X-15 -ins Trudeln, wobei sie sich um zwei Achsen gleichzeitig drehte.
Er machte der Bodenstation Meldung.
»Was haben Sie gesagt, Phil?« fragten sie ungläubig.
»Ich sagte, ich bin, gottverdammt noch mal, ins Trudeln geraten.« Er wunderte sich nicht über ihre Reaktion; es war ihnen nämlich nicht möglich, vom Boden aus den Kurs der X-15 zu erkennen; was sie sahen, waren ausgeprägte Roll- und Nickbewegungen.
Zumal man nicht wußte, wie ein Flugzeug sich verhielt, das bei Überschallgeschwindigkeit ins Trudeln geriet. Man hatte zwar ein paar Windkanalversuche durchgeführt, um das Verhalten der X-15 im Grenzbereich zu simulieren, nur daß die Ergebnisse nicht sehr aussagekräftig gewesen waren.
Auch das Pilotenhandbuch enthielt keinerlei Hinweise für die Stabilisierung der Maschine.
Stone zog alle Register, unter Zuhilfenahme der manuellen FLR und der aerodynamischen Steuerung. Volles Höhen- und Querruder. Was noch?
Das Flugzeug wurde durchgeschüttelt, und er wurde von einer Seite zur anderen geschleudert. Das Atmen fiel ihm schwer, und er war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war alles so schnell gegangen. Ich habe das Leitwerk verloren. Nun ist alles aus.
Plötzlich aktivierte das MH96 wieder die automatische FLR. Die Korrekturdüsen feuerten und neutralisierten das Trudeln. Stone unterstützte die FLR durch den Einsatz der Steuerflächen.
Die X-15 stabilisierte sich und ging wieder in den Horizontalflug.
Stone fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte eine Höhe von hundertzwanzigtausend Fuß und flog Mach Fünf. Nun muß ich nur noch in die gottverdammte Atmosphäre eintreten.
Er zog die Maschine hoch und gab ein obszönes Stoßgebet von sich, als die Steuerung auf seine Befehle reagierte. Nachdem er den vorschriftsmäßigen Anflugwinkel von dreißig Grad erreicht hatte, öffnete er die Luftbremsen und fuhr die
Klappen am hinteren Vertikal stabilisator des Flugzeugs aus. Das Gefühl für die Geschwindigkeit kehrte zurück, als die Verzögerungskräfte einsetzten. Er wurde in die Gurte gedrückt. Die Vorderkanten der Tragflächen glühten in einem dunklen, bedrohlichen Rot.
Der Himmel wurde schnell heller. Er sah Edwards als ein über die Wüste gelegtes Gitter, vierhundert Kilometer vom Startpunkt entfernt.
In einer Höhe von achtzehntausend Fuß zog er die Luftbremsen ein und betätigte die aerodynamische Steuerung, um in einen korkenzieherartigen Sinkflug zu gehen - mit dem Ziel, so viel Geschwindigkeit und Energie wie möglich zu verzehren.
In einer Höhe von tausend Fuß über dem ausgetrockneten See ging er in den Horizontalflug über und stieß die Bauchflosse ab. Er fuhr die Landeklappen aus und zog die vom Wiedereintritt versengte Nase hoch. Zwei Abfangjäger setzten sich neben ihn.
Dann setzte die X-15 auf. Die Kufen am Heck wirbelten Staub und Steine auf, und Stone wurde durchgeschüttelt, während die Kufen über den ausgetrockneten See hoppelten. Das Bugrad hing noch für ein paar Sekunden in der Luft, bevor es aufsetzte und seinerseits eine Staubwolke aufwirbelte.
Anderthalb Kilometer vom Aufsetzpunkt kam die X-15 zum Stehen. Die Abfangjäger donnerten über sie hinweg.
Nachdem der Staub sich auf die Kanzel gelegt hatte, schaltete Stone alle Systeme ab, schloß die Augen und ließ sich in den Sitz zurückfallen.
Das Korsett des Druckanzugs bohrte sich ihm in den Rücken.
Stone hatte sich als Pilot bewährt. Doch mit einem Flug wie dem heutigen würde er bei der NASA keine Punkte sammeln.
Ich habe ein Überschall-Trudeln unter Kontrolle gebracht! Ich habe die Kiste heil ‘runtergebracht, und wenn ich in der Lage bin, das zu rekonstruieren, komme ich ins Handbuch. Und trotzdem hob ich es verbockt. Ich habe die wissenschaftlichen Untersuchungen nicht abgeschlossen, und ich habe die Checkliste nicht vollständig abgehakt. Und das war das einzige, wofür die NASA sich interessierte.
Eine Faust schlug gegen die Kanzel. Die Bodenbesatzung war angekommen; durch das staubige Glas sah er ein breit grinsendes Gesicht. Er hob eine behandschuhte Hand und krümmte Daumen und Zeigefinger zu einem >Perfekt<-Symbol.
Ein Tagewerk im Raumfahrtprogramm war vollbracht.
Montag, 13. April 1970 >Angelhaken<, Kambodscha
Im Jahre 1970 war Ralph Gershon fünfundzwanzig Jahre alt.
Er war in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof in Iowa aufgewachsen und hatte bei der harten Arbeit vom Flug ins Weltall geträumt. Als Kind war er mit Weinbaum und Clarke, Rice Burroughs und Bradbury zum Mars geflogen; später hatte er fasziniert die Entstehung des RaumfahrtProgramms verfolgt. Er hatte ein paar Flugstunden genommen, in der Schule gebüffelt und wurde schließlich - wobei er gegen viele Vorurteile ankämpfen mußte - in die Akademie und dann in die Luftwaffe aufgenommen.
Er hatte einen Traum verwirklicht.
Aber die Wirklichkeit war dann nicht so wundervoll.
Gershon war kaum von der Basis aufgestiegen, als er auch schon über dem Dschungel dahinflog. Er erstreckte sich als schwarzes Meer bis zum Horizont, dunkler als der Himmel.