Jennine beobachtete den Vorgang durch eine Glasscheibe. Die mühselige Handarbeit mutete geradezu mittelalterlich an. Und sie fragte sich, was für ein Gefühl es wohl war, an etwas zu arbeiten - es mit den Fingerspitzen zu berühren und zu formen -, von dem man wußte, daß es eines Tages vielleicht auf dem Mars landete.
Avco würde die Erprobung des Hitzeschilds schrittweise intensivieren: anfangs würde man ihn mit Flammenwerfern bestreichen und zuletzt einem raketengetriebenen Eintritt in die Erdatmosphäre unterziehen.
Daß JK sich die Mühe machte, ihr Einblicke in seine Arbeit zu gewähren, war jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Meistens mußte sie auf ihn verzichten oder stumme Dienerin bei seinen Geschäftsbesprechungen spielen.
Jennine hatte JK im Jahre 1955 geheiratet.
Damals hatte er als Flugzeugingenieur bei Caltech gearbeitet, dem in Pasadena angesiedelten California Institute of Technology.
Die Hochzeit fand in einer katholischen Kirche in der Nähe von Jennines Elternhaus in New Orleans statt. Sie hatte ihre Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin in einer großen Kanzlei aufgegeben und war JK tausend Meilen weit gefolgt, um ihm in privater wie beruflicher Hinsicht eine Stütze zu sein. So war das eben üblich im Jahre 1955.
Als Hochzeitsgeschenk spendierten Jennines Eltern ihnen für ein paar Wochen einen Mietwagen. Sie fuhren damit nach Vermont, um den Altweibersommer zu genießen. Immer, wenn es Herbst wurde, dachte sie an diese Flitterwochen zurück.
Nach den Flitterwochen flogen sie in den Westen, und dann fuhr JK mit ihr nach Pasadena, wo er ein kleines Haus gemietet hatte.
Bei der Ankunft warteten schon ein paar von JKs Kollegen auf sie. Zunächst glaubte sie, es handele sich um eine Art
Begrüßungsfeier. Doch weit gefehlt; wie sich herausstellte, war im Windkanal von Caltech eine Panne aufgetreten.
Also hatte JK ihr einen Kuß gegeben, sich ins Labor verzogen und sie mit dem ganzen Gepäck in der Einfahrt stehenlassen. Als JK nach Hause kam, wurde es schon dunkel.
Die Flitterwochen in Vermont lagen nun siebenundzwanzig Jahre zurück, und Jennine und JK waren seitdem nicht mehr zusammen in Urlaub gefahren.
Und dieses verdammte Mars-Programm war das schwierigste Projekt, an dem JK bisher gearbeitet hatte. JK war von Haus aus Techniker und auch ein guter Manager - sagte Jennine sich -, wenn er mit relativ kleinen Gruppen arbeitete und ein überschaubares Projekt leitete. Doch nun hatte er einen Auftrag von nationaler Bedeutung, bei dem es sich noch dazu um das wohl komplexeste Bauprojekt aller Zeiten handelte.
Hinter den ohnehin schon komplexen Arbeitsabläufen bei Columbia standen all die Zulieferer, mit denen Columbia zusammenarbeitete: Honeywell (und nicht Hughes, wie JK genüßlich bemerkt hatte) arbeitete an der Stabilisierung und Steuerung, Garrett Corporation an der Innenausstattung der Kabine, Rocketdyne, eine Tochtergesellschaft von Rockwell, lieferte die Hauptantriebssysteme, Pratt & Whitney entwickelten die Brennstoffzellen und so weiter.
JK wollte die mannigfaltigen unkoordinierten Änderungen vermeiden, womit Rockwell sich in den Sechzigern bei der Entwicklung von Apollo selbst behindert hatte. Deshalb hatte er einen Kontrollmechanismus implementiert, der eventuelle Änderungen dokumentierte. Und das hatte wiederum zu Konflikten mit den Astronauten - einschließlich Joe Muldoon - geführt, der sich seit den Tagen von Apollo in dieser Hinsicht als federführend betrachtete.
Und so ging das immer weiter.
Einmal zeigte JK ihr ein PERT-Diagramm für die MéM-Entwicklung: ein Projektplan, in dem alle Aufgaben in ihrer logischen Verknüpfung dargestellt waren. Dabei handelte es sich um einen scheinbar banalen, umfangreichen Computerausdruck mit vielen Kästchen und einem Gewirr aus Verbindungslinien.
»Und was machst du damit?«
JK lachte nur und tat so, als ob er den Plan in den Papierkorb werfen wollte. »Nichts! Hab gar nicht die Zeit, ihn durchzulesen!«
Das Projekt glich einem Ungeheuer, und JK versuchte es niederzuringen.
Sie sah, daß die Sache Lee an die Substanz ging. Doch wenn er Entspannung suchte, dann nicht bei ihr. Statt dessen ging er mit Bob Rowen, Jack Morgan oder anderen Kumpels in Newport Beach in irgendeine Kaschemme. Dann kam er in den frühen Morgenstunden stockbesoffen nach Hause und schlief den Rausch aus. Daß er ein Alkoholiker war, glaubte sie aber nicht; das Trinken war nur ein weiterer Beleg dafür, daß JKs Leben nicht in geordneten Bahnen verlief, sondern zwischen Extremen pendelte.
Und am nächsten Morgen - Kater oder nicht - schüttete er zwei Tassen stark gesüßten Kaffees hinunter und setzte sich wieder an den Schreibtisch.
Die Nacht war so still, daß sie sogar die Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
»JK, Sie sollten lieber herkommen«, wisperte Julie Lye mit insektenhafter Stimme. »Ich führe gerade den Drucktest am Sauerstofftank durch. Es ist eine katastrophale Panne aufgetreten. Ich stehe vor der Testgrube. Wir hatten sie mit sieben Tonnen Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff gefüllt. Und nun stecken bloß noch ein paar Titansplitter in den Wänden.«
»In Ordnung. Ich bin gleich da.« JK leierte Instruktionen herunter, während er die Hose suchte. Nun beschrieb Lye ihm den Hergang der Explosion. Es genügte ein Blick auf die Verteilung der Bruchstücke, um die Stärke der Explosion zu bestimmen, die den Tank zerfetzt hatte. Dann wären weitere strukturelle Tests erforderlich, wobei man die Tanks mit Wasser unter Druck setzen würde und nicht mit Stickstoff. Auf diese Art sollte ermittelt werden, ob das Versagen eine mechanische Ursache - zum Beispiel eine defekte Schweißnaht - hatte, oder ob eine chemische Reaktion des Brennstoffs erfolgt war. Anschließend würde Lye sich mit dem Hersteller der Tanks in Verbindung setzen, einem in Indianapolis ansässigen Unternehmensbereich von General Motors. Der Hersteller müßte dann identische Versuche durchführen, um zu ermitteln, ob das Teil durch die Lieferung beschädigt worden war oder ob ein Materialfehler vorlag.
Er erteilte noch Anweisungen, als er das Schlafzimmer verließ. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und stürmte aus dem Haus, ohne sich von Jennine verabschiedet zu haben.
Sie lag da und versuchte krampfhaft einzuschlafen. Es funktionierte nicht.
Sie hatte das Gefühl, daß etwas in ihr zersprang - als ob sie einer von JKs gottverdammten Brennstofftanks wäre, der unter maximalem Druck stand.
Sie stieg aus dem Bett und ging barfuß ins Bad. Dort hatte sie ein paar Flaschen mit Beruhigungsmitteln deponiert.
Sie warf einen Blick in den Spiegel und sah eine Frau mit hängenden Schultern und ergrauendem, strähnigem Haar. Das Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht.
Sie stopfte die Pillen wie Gummibärchen in sich hinein. Sie hatte den Eindruck, das Bild im Spiegel, das die Pillen in den
Mund stopfte, sei jemand anders - vielleicht eine Frau im Fernsehen. Sie fühlte überhaupt nichts.
Schließlich warf sie die leeren Flaschen in den Müll und legte sich wieder ins Bett.
Selbst nach dieser radikalen Maßnahme wollte der Schlaf sich nicht einstellen.
Nach einer Weile griff sie nach dem Telefon und wählte Jack Morgans Privatnummer. Wie durch ein Wunder war er zu Hause und ließ sich nicht in irgendeiner Pinte vollaufen. Sie sagte ihm, was sie getan hatte.
Gegen sechs Uhr morgens stürmte JK ins Haus. Das Haar war zerzaust, die Krawatte fehlte und das Hemd hing über die Hose.
Jack Morgan saß auf dem Bett. Er war nur mit Schlafanzug und Bademantel bekleidet und rubbelte Jennines Glieder. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt? Ich habe Sie schon vor einer Stunde angerufen.«
JK erzählte vom Sauerstofftank, von kontaminiertem Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff und dergleichen, doch Jack schaute ihn nur grimmig an.