JK verstummte bei diesem Blick und versuchte die Regie zu übernehmen. »Haben Sie schon das Krankenhaus verständigt? Der Magen muß ausgepumpt werden.« Das war typisch JK. Erst zu spät kommen und dann alles an sich reißen wollen.
»Der Magen muß nicht ausgepumpt werden«, erwiderte Jack schroff. »Aber sie wird sehr lange schlafen. Und dann muß sie zur weiteren Beobachtung ins Krankenhaus eingeliefert werden.« Mit einem Kopfnicken wies er auf den Nachttisch. »Die Nummer liegt dort.«
JK machte einen unsteten und verwirrten Eindruck. Er setzte sich aufs Bett. Dann nahm er Jennines Hand und massierte, wie
Jack es getan hatte, den Unterarm. Er hatte zwar warme Hände, doch sie zitterten, und die Berührung war entweder zu fest oder zu leicht. Sie rang sich ein Lächeln ab, wodurch sein Selbstvertrauen etwas stieg. Die Massage wurde gleichmäßiger.
»Das ist eine verteufelte Sache«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Eine verteufelte Sache.«
»Hören Sie zu«, sagte Jack Morgan. »Sie müssen endlich aufwachen, JK. Sie müssen sich mehr um Ihre Familie kümmern. Und um sich selbst auch. Sonst wird Jennine Sie verlassen, und niemand wird ihr deshalb einen Vorwurf machen. Und ich werde sie sogar von hier wegbringen.«
JK war am Boden zerstört. Ihm wurde bewußt, daß er das wirklich nicht hatte kommen sehen.
»Ach so«, sagte er. »Dann war das wohl ein Hilfeschrei, huh.«
Ach, JK. Psychologengeschwätz. Sie schloß die Augen und dachte an das Gesicht im Spiegel, an den stetigen Fluß der Pillen, die sie schluckte. Entspreche ich wirklich schon diesem Klischee?
JK massierte ihr für eine Weile stumm den Arm. Und dann laberte er sie mit der Geschichte vom defekten Tank voll. »Erstaunlicherweise explodierten die Tanks nur, wenn sie mit Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff gefüllt waren«, sagte er. »Also wußten wir, daß irgendeine chemische Reaktion ablaufen mußte. Aber die Tanks explodierten nur hier in Newport. Wir haben identische Versuche bei den Herstellern durchgeführt, und dort ist es nicht passiert.
Also mußte es am Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff selbst liegen. Wir verfolgten seine Herkunft zurück. Er stammt von einer großen Raffinerie, die von der Luftwaffe betrieben wird. Nun rate mal, was wir gefunden haben? Der Stoff, mit dem wir in Newport arbeiteten, stammte aus einem späteren Los als der
Stoff in Indianapolis. Unser Stoff war reiner. Das IndianapolisLos war mit winzigen Wasseranteilen verunreinigt. Also haben wir in Newport neue Laborversuche durchgeführt. Wir fanden heraus, daß zu reiner Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff - mit einem Reinheitsgrad von über neunundneunzig Prozent -korrosionsfördernd ist! Er greift Titan an! Mit einem Spritzer Wasser, wie beim Indianapolis-Los, läßt das Problem sich aber beheben. Wie dem auch sei, zum Teufel mit dem Zeug. Wir werden wohl auf Sauerstoff-Methan als Treibstoff umsteigen. Der Wirkungsgrad geht in Ordnung, er ist ungiftig, und er ist für Monate im Weltraum lagerfähig, obwohl er nicht einmal hypergolisch ist.«
Jennine hörte stumm zu. JK hatte noch immer ihren Arm in der Hand. Er hatte sich in die Geschichte hineingesteigert und schwadronierte nun von der technischen Detektivarbeit und dem ganzen anderen Kram. Sie spürte, daß er den Arm nur noch mechanisch rubbelte.
Sie dachte an das gewaltige Projekt, an die Teile des MarsRaumschiffs, die aus allen Staaten der USA in die Montagehallen in Newport transportiert wurden: Treibstoffund Sauerstofftanks aus Buffalo und Boulder, Instrumente aus Newark und Cedar Rapids, Ventile aus San Fernando, Elektronik aus Kalamazoo und Lima. Und wahrscheinlich hinterließ jedes einzelne Teil eine unsichtbare Spur aus Alkoholmißbrauch, Herzanfällen und Ehescheidungen.
Sie sagte sich, daß JK wirklich imstande sein müßte, sich in ihre Lage zu versetzen.
Das ist der ultimative Härtetest, JK. Das ist ein Vernichtungstest. Nichts anderes als ein Vernichtungstest.
Dienstag, 10. August 1982
Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
»Sie werden mich also nicht fliegen lassen.«
Joe Muldoon lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück, wobei dieser unter seinem Gewicht knarrte. Ein leerer Pappbecher stand auf dem Schreibtisch, der inmitten des hochwertigen Briefpapiers und der ledernen Schreibunterlage deplaziert wirkte. Nun griff er sich den Becher und zerdrückte ihn in einer schnellen Bewegung. »Sie sehen das falsch, Natalie. Deshalb möchte ich es Ihnen auch persönlich erklären, ehe Sie es hintenrum erfahren.«
»Ich weiß das zu schätzen. Aber Sie lassen mich trotzdem nicht fliegen.«
»Sie sind nicht die einzige am JSC, die eine Enttäuschung verkraften muß. Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: weil wir die verdammte Saturn VB verloren haben und weil man uns den Etat noch mehr gekürzt hat - verdammt, Natalie, dafür, daß das Land schon seit einem Jahr in der Rezession steckt, kann ich wohl nichts -, müssen wir das Programm straffen. Und wir müssen die Frist für den Marsflug einhalten. Die Besatzung der ersten E-Klasse-Mission wird nun eine Mission fliegen, die wir als D-Plus bezeichnen und in der die Ziele der ursprünglichen D- und E-Klasse-Missionen gebündelt werden. Und.«
»Also hat die D-Mission, mein Weltraum-Dauertest, sich erledigt. Joe, ich-weiß besser über den Mars Bescheid als jeder andere im Astronauten-Büro. Und trotzdem lassen Sie mich nicht fliegen.«
Muldoon riß sich sichtlich zusammen. »Natalie, Sie müssen mir glauben. Das ist nichts Persönliches. Zumal ich glaube, daß es kein großer Verlust für Sie ist. Gerade weil Sie so viel wissen, werden Sie uns hier unten viel mehr nützen, als wenn
Sie im niedrigen Erdorbit in einer Blechbüchse rumhängen und zusehen würden, wie der Lack verblaßt. Ich brauche Sie hier, Natalie, mit Ihrer Expertise über den Mars. Damit wir nicht vergessen, weshalb wir überhaupt dorthin fliegen.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen und versuchte, den Zorn zu unterdrücken. »In Ordnung. Ich habe wohl keine andere Wahl. Aber ich werde weiterhin trainieren, auch im Simulator, und ich werde jede Gelegenheit nutzen, um mehr Flugerfahrung zu sammeln. Und wenn Sie mir nun sagen, ich soll das sein lassen, dann werde ich auf Nimmerwiedersehen durch diese Tür verschwinden; Mars-Experte hin oder her.«
Er hob die Hände. »Genug! Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als ein neuer Verdacht sie beschlich. »Gleichberechtigung«, sagte sie.
»Hä?« Er wirkte verwirrt.
»Das Gesetz für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es ist im Juni verabschiedet worden.« Sie spürte, wie eine irrationale Wut in ihr aufstieg. »Das politische Klima hat sich geändert. Ist das der Grund, weshalb Sie glauben, auf mir rumhacken zu können?«
»Verdammt, Natalie, damit hat das nichts zu tun!« Sichtlich ungehalten beugte er sich vor. »Wissen Sie, Ihnen und den anderen Frauen wäre viel mehr gedient, wenn sie nicht ständig mit solchen Neurosen kokettieren würden.«
Sie funkelte ihn an. Muldoon saß in soldatischer Haltung auf dem Stuhl und musterte sie mit einem nachdenklichen Ausdruck in den blauen Augen. Sie erkannte, daß er es wirklich gut mit ihr meinte und daß er von der Richtigkeit seiner Aussagen überzeugt war.
Sie traute sich nicht, noch etwas zu sagen.
Später wollte sie sich in dem schäbigen Apartment, das sie in Timber Cove zur Miete bewohnte, betrinken, was ihr aber nicht gelang.
Ihr Leben ging den Bach runter. Mit vierunddreißig war sie schon ziemlich alt für eine Wissenschaftlerin, die sich mit Feldforschungen befaßte, und ihre akademische Laufbahn war wohl auch nicht mehr zu retten. Das Engagement im Raumfahrtprogramm - die Zeit, die sie in Simulationen und Überlebenstraining investiert hatte -, war zu Lasten der Forschung gegangen, und sie wußte auch, daß sie mit den Veröffentlichungen, deren Qualität und Quantität von Jahr zu Jahr abnahmen, bei einer Rückkehr an die Universität keinen Blumentopf gewinnen würde.