Gershon wußte, daß Joe Muldoon so unzufrieden mit der in seinen Augen laschen Durchführung des Projekts war, daß er eine >Tiger-Team<-Revision angeordnet hatte. Diese Technik hatte die NASA bei der Luftwaffe abgekupfert. Das von Phil Stone angeführte >Tiger-Team< hatte ungehinderten Zutritt zum Werksgelände von Columbia und war befugt, die gesamte Ablauforganisation zu kontrollieren. Gershon wußte, daß das >Tiger-Team< auch heute hier war, trotz des Abnahmetests. Der Abschlußbericht stand kurz vor der Fertigstellung. Dies und der Abnahmetest erfolgten zusätzlich zur regulären Qualitätssicherung. Zu diesem Zweck weilten vierhundert NASA-Mitarbeiter in Newport und schauten der Belegschaft von Columbia über die Schulter. Das verstärkte den Druck auf JK Lee und seine Leute, die ohnehin schon aus dem letzten Loch pfiffen.
Endlich erschien JK Lee, mit schlampig gebundener Krawatte und einem Stapel Unterlagen unter dem Arm. Gershon hatte den Eindruck, daß sein linker Arm steif war. Lee legte die Unterlagen auf das Rednerpult an der Stirnseite des Raums und begrüßte zunächst ein paar der NASA-Vertreter.
Dann trat er ans Pult und bat um Aufmerksamkeit.
»Wir beschäftigen uns heute mit der Abnahmeprüfung für Raumschiff 009«, sagte er. »Es geht um die Herstellung der Einsatzbereitschaft, die Checkout-Prozeduren und die Triebwerkskopplungs-Prozeduren in Cape Canaveral. Wir sollten vermeiden, uns in Konstruktionsänderungen zu verzetteln; wir behandeln den spezifischen Checkout dieses Raumschiffs in seiner aktuellen Konfiguration.«
Er schaute in die Runde. »Ich möchte auch nicht, daß auf dieser Sitzung olle Kamellen durchgekaut werden. Wir wissen sehr wohl, daß das Schiff nur langsame Fortschritte macht. Das will ich auch gar nicht beschönigen. Wir haben noch nicht einmal die Versuchsreihen abgeschlossen, so daß der Abnahmetest im Grunde nur vorläufig ist. Aber ich arbeite daran.«
Darob wurden Unmutsäußerungen laut, doch niemand stellte Lee persönlich zur Rede.
Gershon nahm die umfangreichen Unterlagen zur Hand.
Unter Lees Leitung arbeiteten die Anwesenden die MängelListe ab. Die meisten Probleme waren geringfügig und schon in früheren Sitzungen diskutiert worden. Lee versuchte, die einzelnen Punkte schnell abzuhandeln, wobei er Diskussionen erst gar nicht zuließ und dafür sorgte, daß die Gruppe ihre Energie in die Erstellung eines Maßnahmenkatalogs für jedes Problem investierte.
Dennoch war die Liste so umfangreich, daß Gershon sich auf einen langen Tag einstellte; und vielleicht würden sie es heute gar nicht mehr schaffen.
Lee war heute gut in Form, sagte Gershon sich. Er war zwar überdreht, hakte die Punkte auf der Tagesordnung aber zügig ab. Erregte irgend etwas den Unmut der Anwesenden, entschärfte er die Situation mit einem Scherz. Er schuf eine entspannte Atmosphäre, die ein konstruktives Arbeiten ermöglichte.
Trotzdem schien Lee Probleme mit dem linken Arm zu haben. Er rieb sich ständig am Ellbogen, und es fiel ihm auch schwer, für längere Zeit zu stehen.
Zum Mittagessen war ein Büffet angerichtet. Gershon lud sich einen Teller voll und schlang das Essen hinunter. Dann lud Lee ihn zu einer Werksbesichtigung ein. Gershon folgte der Einladung. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es politisch klüger gewesen, wenn Lee sich bei den hohen Tieren von der NASA eingeschmeichelt hätte. Gershon hatte Columbia über die Jahre auch kritisch betrachtet. Doch hatte Lee offenbar nicht den Gefallen vergessen, den Gershon ihm erwiesen hatte, indem er ihn bei der Aufforderung zur Angebotsabgabe für das MEM bevorzugt behandelte.
Sie betraten den sogenannten Reinraum. Hier wurden die vier Testgeräte unter antiseptischen Bedingungen montiert. Lee und Gershon mußten sich in eine Liste eintragen und weiße Kittel sowie Plastikhauben und -überschuhe anziehen. Der Vorarbeiter ersuchte sie, den markierten Pfaden zu folgen und sich doch bitte vom Raumschiff fernzuhalten.
Der weißgetünchte, in hellem Licht erstrahlende Raum erstreckte sich in alle Richtungen. Das Personal arbeitete an großen Geräten. Die Besucher vernahmen leises Murmeln, metallisches Klirren und surrende Maschinen. Große Winden und Kräne hingen vom verstärkten Dach, bereit zur Aufnahme schwerer Lasten.
Der Reinraum erinnerte Gershon eher an das Atelier eines Bildhauers als an eine Fabrik; die Arbeitsabläufe wirkten keineswegs routiniert. Weil vom MEM nur eine Kleinserie produziert wurde, erweckte die Werkshalle eher den Eindruck eines Experimentallabors.
Und inmitten dieser Szenerie nahmen vier konische Körper Gestalt an, als ob sie sich aus einer superkonzentrierten Lösung herauskristallisierten. In Gershons Augen sahen die silbrigen, von Düsen und Fenstern durchbrochenen Körper aus wie religiöse Artefakte, wie aufgereihte Pyramiden.
Dies hier war die Manifestation von Lees Leistung, sagte Gershon sich. Inmitten des Management-Chaos - und laufender Änderungen, unbequemer Kunden, konstruktiver Probleme und Budgetüberschreitungen - schlüpfte JK Lee in die Rolle eines Zauberers und schuf in einer Werkshalle in Newport Beach vier Mars-Raumschiffe.
Jeder dieser Kegel verkörperte eine Botschaft: Dies ist ein bemanntes Raumschiff. Der KVP - der Kontinuierliche Verbesserungsprozeß in der dritten Dimension - wird ihre sichere Rückkehr gewährleisten.
Lee grinste. »Das habe ich bei einem Automobilhersteller geklaut«, sagte er und rieb sich erneut den Arm. Er wirkte abgespannt und müde, und es gebrach ihm an der Energie und Vitalität, die Gershon sonst immer bei ihm wahrgenommen hatte. Vielleicht sog der Abnahmetest ihm die ganze Energie aus dem Körper.
Sie verhielten vor einem der glänzenden Raumschiffe. »Raumschiff 009«, sagte Lee. »Das Objekt des heutigen Abnahmetests und das erste MEM, das eine Besatzung tragen wird. Toll, nicht?«
Das neun Meter hohe MEM türmte sich wie ein Metallzelt vor Gershon auf. In der schimmernden, hitzebeständigen Hülle klafften noch viele Lücken, und er sah die Subsysteme im Innern - als ob es sich um ein Schnittmodell gehandelt hätte.
Er betrachtete den Aufbau des Schiffs. Entlang der Achse des MEM verlief die schlanke Röhre der Aufstiegsstufe - ein Raumschiff im Raumschiff -, mit der eckigen Kabine an der Spitze. An der Grundfläche des MEM saß der massive HalbTorus, der als Wohnmodul während des Aufenthalts auf dem Mars diente. Von dort schlängelte der Zugangstunnel sich zur Aufstiegsstufe an der Spitze der Stufenrakete. Und dem Wohnmodul gegenüber waren die Treibstoff- und Oxidatortanks montiert, die gleichzeitig als Gegengewicht fungierten: große Kugeln für die Landestufe und kompakte Zylinder für die Aufstiegsstufe, die wie Beeren einer asymmetrischen Traube gruppiert waren.
Eine Laufbühne auf Rädern stand neben dem MEM. Von der Bühne führten Stege ins Innere des MEM, und Gershon sah Arbeiter in weißen Overalls, die bäuchlings an Kabelbäumen,
Schalttafeln und Rohrleitungen arbeiteten. Sie wirkten wie Würmer, die in der leuchtenden Maschine herumkrochen.
Gershon ging in die Hocke, um einen Blick ins Innere des Wohnmoduls zu werfen. Er sah die großen Schränke, in denen die Mars-Schutzanzüge und die EVA-Ausrüstung verstaut werden würden. Die lindgrünen Wände des Wohnmoduls waren mit vierundzwanzig Schalttafeln und fünfhundert Schaltern besetzt. Überall waren Warnlampen plaziert. Da und dort quollen Drähte aus einer Schalttafel, doch ein paar der Schalttafeln und Lampen waren bereits funktionsfähig. Das glühende Licht zauberte Reflexe auf die Experimentiertische und die wissenschaftliche Ausrüstung.
Gershon wäre in der Lage gewesen, den Aufbau des Schiffs mit verbundenen Augen zu skizzieren. Nachdem er so viele Jahre bei Columbia und so viele Stunden in verschiedenen Simulatoren zugebracht hatte, kannte er die Position jedes verdammten Schalters. Er durfte mit Fug und Recht sagen, die Hälfte der Schalttafeln, die er von seinem Standort aus sah, selbst konstruiert zu haben.
Es roch nach Kabeln, Schmierstoffen, Ozon und Metall. Obwohl das MEM noch unvollendet war, wirkte es jetzt schon unvergleichlich lebendiger als jeder Simulator. Es war wie das Cockpit eines fabrikneuen Flugzeugs.