Er hatte nicht viel zu tun. Weil das Triebwerk der Aufstiegsstufe keinen Reservemotor hatte - es mußte funktionieren -, war es so einfach wie möglich konstruiert und bestand nur aus zwei beweglichen Teilen: Kugelventile, die Treibstoff und Oxidator in die Brennkammer leiteten. Das mit Sauerstoff und Methan beschickte Triebwerk verfügte weder über ein Drosselventil noch über eine Starterklappe; wenn man den Hauptschalter umlegte, sprang das Triebwerk an und brannte für etwa zehn Minuten. Das genügte, um die Besatzung vom Mars wegzubringen und in eine Parkbahn zu gehen.
Gershon beugte sich in den Gurten nach vorn. Durchs Fenster sah er die abstürzende Landestufe. Der stumpfe Kegel, in dessen Mitte ein tiefes Loch klaffte, schleppte die gekappten Kabel und Schläuche nach.
Die Isolierfolie war vom Abgasstrahl der Aufstiegsstufe zerrissen worden, und Gershon sah kreisförmig wegdriftende Fetzen.
JK Lee stand im Leitstand an der Rückseite des MOCR und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Auf allen Bildern, die in den letzten Tagen vom MEM zur Erde geschickt worden waren, erkannte man deutlich die kleine Plastikzitrone, die unter dem Richtteleskop schwebte. Er wußte dieses Symbol durchaus zu deuten: es handelte sich um eine Botschaft von der Besatzung - wahrscheinlich von Ralph -, die für ihn bestimmt war.
Doch das berührte ihn nicht und tat seiner Hochstimmung keinen Abbruch. Nein, Sir! Natürlich hatte die Besatzung Probleme, doch damit hatte sie rechnen müssen; schließlich ging es bei diesem Testflug darum, Fehler aufzuspüren. Es enttäuschte ihn, daß Ralph Gershon das nicht begriff. Für Lee war nur wichtig, sein Schiff dort oben im Orbit zu beobachten, Pannen hin oder her; sein Schiff, das wider Erwarten doch noch rechtzeitig ausgeliefert worden war.
Lee fühlte einen großen Triumph. Es kam ihm so vor, als ob er, um diesen Tag zu erleben, gegen alles und jeden hatte kämpfen müssen - die NASA-Führung, die Zulieferer, die Astronauten, halb Columbia, sogar gegen seinen eigenen, treulosen Körper. Doch er hatte es geschafft, und die Manifestation dieser Leistung befand sich nun dort oben im Orbit, erschien überlebensgroß auf den Bildschirmen an der Stirnseite des MOCR und auf den Fernsehbildschirmen in der ganzen Welt. Welch ein Sieg! Lee hatte das Gefühl, den größten Triumph seiner Laufbahn errungen zu haben. Dahinter würde sogar der Moment zurücktreten, wo ein anderes seiner Babies, die im Reinraum zu Newport das Licht der Welt erblickt hatten, die Teller der Landebeine auf den Mars selbst stellte.
Ralphs abgefuckte Zitrone interessierte ihn nicht im geringsten.
Er brach in Gelächter aus, ohne sich um die Reaktion der Leute zu scheren und holte die nächste Zigarette aus der Packung.
»Sechsundzwanzig Sekunden«, sagte Bleeker. »Wir werden leicht nach vorn kippen. Ein sehr glatter, sehr ruhiger Flug.«
Gershon bereitete das MEM auf das Nickmanöver vor. Im Glauben, es befände sich fünfzehnhundert Meter über der Oberfläche des Mars, sollte das MEM sich der Programmierung gemäß leicht aufrichten, um sich im MarsOrbit mit dem Rest des Ares-Verbunds zu treffen.
Der Horizont wanderte nach rechts aus.
Gershon, auf dem ohnehin schon ein Gewicht lastete, wurde in den Gurten nach vorn gerissen.
Das Manöver hatte zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden. Doch das Nicken selbst war ihm heftiger erschienen, als er erwartet hatte.
Und das Nicken hielt an; hinter dem Fenster rollte die Wolkendecke der Erde nach oben und verwandelte sich von einem Boden in eine Wand.
»Was, zum Teufel, ist das?« sagte Bleeker.
»Heißes Mikro, Adam«, rief Ted Curval.
Sie wissen selbst nicht, was geschieht, wurde Gershon sich bewußt.
Die leuchtende Landschaft zog nun über seinem Kopf hinweg, und Schatten wanderten über die Unterbrecherbänke. Dampf, der aus den Düsen der Lagekontrollsteuerung austrat, waberte vor dem Fenster.
Doch die Automatik übernahm nicht wieder die Kontrolle. Die Rotation beschleunigte sich.
»Mein Gott«, sagte Bleeker sarkastisch. »Das ist das reinste Karussell. Mir fliegen noch die Augen aus dem Kopf.«
Ein orbitaler Sturzflug: Gershon erkannte, daß Bleeker recht hatte.
Bald rotierte das MEM mit einer Umdrehung pro Sekunde, und die Erde raste an den Fenstern vorbei. Sonnenlicht schien stroboskopartig in die Kabine, blendete die Männer und raubte ihnen die Orientierung.
Die Instrumentenkonsole verschwamm vor Gershons Augen. Nun mußt du mal was für dein Geld tun, Junge.
Er legte eine Reihe von Schaltern um und versuchte, das Problem methodisch einzugrenzen. Vielleicht hatte ein Steuertriebwerk sich nicht abgeschaltet; diese Möglichkeit prüfte er zuerst. Worum auch immer es sich handelte, er mußte die Drehbewegung schleunigst abstellen; sonst bestand die Gefahr, daß die Lenkungssysteme völlig blockierten. Er mußte auf manuelle Steuerung gehen, bevor das eintrat.
Er packte den Steuerknüppel und aktivierte die Lagekontrollsteuerung, wobei er die Erde als Bezugspunkt nahm. Er versuchte, dem Taumeln der Aufstiegsstufe entgegenzuwirken und die Iowa zu stabilisieren.
Zunächst verstärkte die Rotation sich noch; es war, als ob die Steuertriebwerke keine Wirkung zeigten. Ihm wurde schwindlig. Er und Bleeker legten hektisch Schalter um. Wenn sie das MEM nicht bald unter Kontrolle brachten, bestand die Gefahr, daß sie ohnmächtig wurden; und dann wäre Apollo unmöglich in der Lage, an die rotierende Iowa anzudocken. Doch bis Apollo überhaupt eintraf, wäre das Schiff wohl schon auseinandergebrochen.
Endlich gelang es ihnen, das Haupttriebwerk und die Abbruchregelung zu deaktivieren. Nun, wo die Automatik abgeschaltet war, wirkte die Lagekontrollsteuerung dem Nicken entgegen.
Bleeker schaltete das Triebwerk der Aufstiegsstufe ab. Die Rotation verlangsamte sich.
Mit Hilfe des künstlichen Horizonts ermittelte Gershon, wann die Stufe sich wieder stabilisierte; das Trommelfell war durch die Achterbahnfahrt gerissen.
Bleeker klang angespannt, als ob er sich gleich in den Helm erbrechen würde. »Mein Gott. Du hattest recht, Ralph. Dieses Schiff ist ein Seelenverkäufer.«
Gershon konzentrierte sich auf den Erdhorizont; langsam bekam er wieder einen klaren Kopf. »Nein«, sagte er. »Ein Seelenverkäufer ist zwar heruntergekommen, aber noch einsatzbereit. Dieses Ding hingegen ist gefährlich.«
Von der Bodenstation aus informierte Curval sie, daß Bob Crippen bereits mit Apollo vom hohen Orbit abstieg, um sie zu bergen.
August 1984 Houston; Newport Beach
JK Lee hielt sich für den Rest der Mission im MOCR auf, bis zu dem Moment, wo Bleekers Besatzung mit der Kommandokapsel zur Erde zurückkehrte.
Art Cane erwartete ihn vor Gebäude 30.
»Art!« Grinsend ging Lee zu seinem Chef. »Ich wußte gar nicht, daß Sie hier rausfahren würden.«
Cane, der hemdsärmlig in der schwülen Hitze von Houston stand, sah aus wie ein alter Baum, der das Laub verloren hatte. »Das hatte ich zuerst auch nicht vor. Steigen Sie in den Wagen, JK.«
Beim Fahrzeug, das auf dem Parkplatz vor Gebäude 30 abgestellt war, handelte es sich um eine gemietete StretchLimousine mit einer Bar im Fond. Es war angenehm kühl im Wagen. Lee stieg ein. Er war froh, der Hitze entronnen zu sein und zündete sich eine Zigarette an.
Cane nickte dem Fahrer zu, und das Fahrzeug fuhr sanft an.
Lee musterte Cane. »Solche Extravaganzen sehen Ihnen gar nicht ähnlich, Art.«
Cane zuckte die Achseln und lockerte die Krawatte. »Ich bin ein alter Mann, JK. Was soll ich sagen? Ich verkrafte die texanische Hitze nicht und brauche eine Klimaanlage.« Cane faltete das Jackett auf dem Schoß akkurat zusammen und legte dann die Hände darauf. »Sehen Sie, JK. Sie wissen doch, unter welchem Druck wir stehen.«