Ach, scheiß drauf.
»Ja«, sagte er zu Bleeker. »Ja, ich habe mich entschieden. Aber, Adam.«
»Ja?«
»Sie weiß es noch gar nicht.«
Montag, 13. August 1984 Ramada Inn South/NASA, Houston
Wladimir Wiktorenko hatte sich der Schuhe entledigt und nippte an einer Flasche Whisky. Er war eigens nach Houston gekommen, um tiefere Einblicke ins Ares-Trainingsprogramm zu erhalten. Im Moment lauschte er mit halbem Ohr den Nachrichten und fragte sich, was er mit dem Abend anfangen solle.
Die Nachrichtensprecherin - eine atemberaubend schöne, junge Frau - sagte, soeben habe man die Besatzung für Ares bekanntgegeben.
Wiktorenko verschluckte sich und ließ die Flasche fallen.
Er setzte sich auf und wischte sich den Whisky vom Mund. Er glaubte, sich verhört zu haben.
Mitnichten: nun erschien ein Bild von Natalie - eine offizielle Aufnahme, wobei sie vor einem undefinierbaren Hintergrund saß, dem Fotographen über die Schulter blickte und sich nervös am Modell eines bikonischen MEM festhielt, das längst nicht mehr aktuell war.
Er griff zum Telefon und rief York an.
»Maruschka! Ich hab’s eben gehört! Sie fliegen zum Mars!«
»Das stimmt nicht«, sagte York mit monotoner und emotionsloser Stimme.
»Was? Aber es kam doch in den Nachrichten.«
»Ja. Ich hab’s auch gehört. Aber von der NASA habe ich nichts gehört. Und solange sie sich nicht bei mir melden, weiß ich von gar nichts.«
Wiktorenkos Mund öffnete und schloß sich, ähnlich einem Fisch. Du fliegst zum Mars! Das ist ein Grund zum Jubeln! York blieb stumm.
»Maruschka. Sind Sie allein?«
»Hmmh.«
Natürlich bist du das. »Erteilen Sie mir die Erlaubnis, zu Ihnen zu kommen und mit Ihnen auf den Anruf von der NASA zu warten? Vielleicht hilft Ihnen das.«
»Wenn Sie möchten. Sie müssen aber nicht kommen. Es geht mir gut, Wladimir.«
»Natürlich geht es Ihnen gut.«
Wiktorenko legte auf, holte sechs Fläschchen aus der Minibar und stürmte aus dem Raum.
York saß allein auf der Couch. Im Hintergrund lief das Fernsehgerät. Sie war mit einem Polohemd und einer Hose bekleidet. An den Wänden des Wohnzimmers hingen die alten Mariner-Aufnahmen, und der Tisch war mit Papieren übersät: offensichtlich verfaßte sie gerade eine Abhandlung über die Oberflächenbeschaffenheit irgendeiner Region auf dem Mars.
Wiktorenko stürmte herein. »Ich habe etwas mitgebracht.« Er kramte die Fläschchen aus der Tasche und baute sie in einer Reihe vor dem Fernsehgerät auf.
»Wozu soll das denn gut sein?«
»Für den Fall, daß Sie den richtigen Anruf bekommen. Oder auch den falschen.«
Dann setzte er sich neben sie und nahm ihre Hand. Wortlos verfolgten sie das Geschehen auf dem Bildschirm. Anfangs war ihre Hand noch steif, doch nach ein paar Minuten umklammerte sie seine Hand regelrecht.
Wiktorenko schrak auf, als das Telefon klingelte.
York ließ es ein paarmal klingeln. Dann entzog sie Wiktorenko die Hand und ging zum Telefon. Ihr Gang war langsam und staksig, als ob sie in einem unsichtbaren Druckanzug steckte.
»York.«
Er hörte, wie sie leise schnaufte.
»Ach, hallo, Mama. Nein. Es stimmt nicht. Vielleicht.
Ich habe es auch nur in den Nachrichten gehört. Die NASA hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Bis dahin. Nein, ich glaube nicht, daß ich dort anrufen sollte. Sie wissen, wo ich zu finden bin. Ich warte hier, bis - ja, vielleicht solltest du aus der Leitung gehen, Mama. Ich rufe dich an, wenn ich etwas Näheres weiß. Tschüß. Ja, ich dich auch. Tschüß.«
Sie legte auf und drehte sich mit einem Achselzucken zu Wiktorenko um.
Im Fernsehen brachten sie die Wiederholung einer uralten Serie; Wiktorenko vermochte dem Stakkato der Dialoge kaum zu folgen und fand die Handlung billig und überhaupt nicht witzig.
York saß stumm da. Sie zitterte leicht. Er bezweifelte, daß sie die Bilder überhaupt sah, die über die Mattscheibe flimmerten.
Wieder klingelte das Telefon. York stand auf.
»York.«
»Ja, Sir.«
Dann sagte sie für ein paar Sekunden nichts mehr.
»Ja, Sir. Danke. Ich werde mein Bestes tun. Natürlich. Auf Wiederhören.«
Sie legte auf. Wiktorenko wagte nicht, sie nach dem Inhalt des Gesprächs zu fragen.
York ging zum Fernsehgerät, aus dem unablässig das konservierte Gelächter der hirnlosen Komödie drang. Sie nahm eins der Fläschchen, die Wiktorenko mitgebracht hatte, schraubte den Verschluß ab und warf ihn auf den Fußboden. Dann leerte sie die Pulle in einem Zug.
Wiktorenko konnte nicht mehr an sich halten. Er erhob sich vom Sofa und durchmaß den Raum mit weiten Schritten. Dann faßte er York am Ellbogen. »Na? Gute Nachrichten, Maruschka?«
Sie schaute zu ihm auf; in den Augen unter den buschigen Brauen lag ein verletzlicher Ausdruck. »Es ist wahr«, sagte sie. »Wlad, es ist wahr. Das war Joe Muldoon.«
Wiktorenko hätte jubeln und sie herumwirbeln mögen!. Doch sie stand nur da, schaute zu ihm auf und befingerte die leere Flasche. Er beschloß, sich zurückzuhalten und ihre Reaktion abzuwarten.
Sie ging zum Telefon und rief ihre Mutter an. Dann schlug sie vor, auf weitere Anrufe zu warten.
Also setzte Wiktorenko sich wieder auf das Sofa, hielt Yorks zitternde Hand und schaute sich die blödsinnige Komödie im Fernsehen an. Es war eine bizarre Situation.
»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte York nach einer Weile.
»Was?«
Sie machte eine vage Geste. Er hatte den Eindruck, daß sie ihre ganze Selbstbeherrschung aufbot. »Die Ungewißheit. Daß ich keine Kontrolle über mein Leben habe. Mein Gott, nachdem der Dauertest im Weltraum gestrichen wurde, wähnte ich mich weiter vom Mars entfernt als je zuvor. Und nun - aus heiterem Himmel - das.«
Er drückte ihre Hand. »Sie sind nie beim Militär gewesen, Maruschka. So läuft das beim Militär. Dort haben Sie keine Wahl und dürfen nicht selbst über Ihr Leben bestimmen. Vielleicht weist eure zivile NASA doch mehr militärische Züge auf, als manch einer sich eingestehen will.«
Das Telefon klingelte. Es war Adam Bleeker, dessen Posten York übernommen hatte. York sprach kurz mit ihm.
»Wie fühlt er sich?«
Sie zuckte die Achseln.
Sie warteten noch für eine Weile, doch es erfolgten keine Anrufe mehr. Zweifellos übten diese Idioten im AstronautenBüro nun den Schulterschluß und straften York - und wohl auch Gershon - mit Mißachtung, weil sie ihre Kumpels, die bevorzugten Kandidaten, aus dem Rennen geworfen hatten.
»Unglaublich!« entrüstete Wiktorenko sich. »In Rußland würden wir uns einem Kameraden gegenüber nicht so schäbig verhalten. Kommen Sie. Wir gehen essen. Möchten Sie in ein Steakhaus, zum Italiener oder doch lieber zum Mexikaner? Sie sind eingeladen! Ich setze es der Sowjetunion auf die Spesenrechnung, Maruschka!«
Erst zierte sie sich, doch dann nahm sie die Einladung an.
Beim Verlassen der Wohnung kam ihnen auf dem Gang ein dicklicher junger Mann entgegen. Über seiner Schulter leuchtete die Lampe einer Kamera.
»Frau York! KNWS-TV. Wie fühlt man sich als erste Frau auf dem Mars?«
Fünftes Buch.
Ares
Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]
Plus 369/09:27:26
Ockerfarbenes Licht, das seltsam gesprenkelt war, schien neben ihr durch das Fenster der Kommandokapseclass="underline" der Mars war inzwischen so groß geworden, daß beim Blick aus dem Fenster nur noch ein Ausschnitt des Planeten zu sehen war.