Um diese Masse im Erdorbit zu montieren, waren neun Saturn-VB-Flüge in den letzten fünf Jahren erforderlich gewesen - die Hälfte davon bemannt. Die Triebwerksstufen und die Tanks hatte man in Einzelteilen in den Orbit gebracht und dort montiert. Anschließend waren sie von Tank-Modulen mit Brennstoff beschickt worden. Die Mehrstufenrakete stellte eine Weiterentwicklung der Apollo-Saturn-Technik dar, wobei die Grundkonstruktion aus den sechziger Jahren stammte. Allerdings hatte die NASA eine ganze Reihe neuer Techniken entwickeln müssen, um das zu bewerkstelligen: die Montage schwerer Komponenten im Orbit, die langfristige Lagerung superkalter Flüssigkeiten, orbitale Betankung.
So, wie die komplexe und massive Triebwerksgruppe über der Erde segelte und vom gleißenden, nicht durch eine Atmosphäre gefilterten Sonnenlicht beschienen wurde, sah die Struktur aus wie ein großes, mit Juwelen besetztes Raumschiffsmodell. Wenn sie erst einmal angedockt hatten, würde sie die Mehrstufenrakete für ein Jahr nicht mehr aus dieser Perspektive sehen. Nicht, wie ihr nun bewußt wurde, bis sie von der Mehrstufenrakete ins MEM überwechselte und in einen Orbit um den Mars ging.
Stone streckte sich, hob die Arme über den Kopf und drückte den Rücken durch, so daß er von der Liege emporschwebte. Mit offensichtlicher Erleichterung entfaltete er die langen Gliedmaßen; für einen Astronauten war er im Grunde zu groß, sagte York sich.
»Es war ein langer Tag«, sagte er. »Was haltet ihr davon, wenn wir etwas essen, bevor wir mit dem Andockmanöver weitermachen. Wenn du dich darum kümmern würdest, Natalie?«
Essen? Jetzt? »Sicher«, sagte sie. »Wird gemacht.«
»Rager«, sagte Gershon und erhob sich von der Liege. Er bewegte sich in der Mikrogravitation, als ob er nie etwas anderes getan hätte; er stieg von der Liege auf, stieß sich an der Konsole vor sich ab und schlängelte sich wie ein Aal durch die Kabine.
Er verankerte sich in der Gerätenische unterhalb der Liegen. Dann driftete er zum Proviantbehälter hinüber und hob den Deckeclass="underline" er war vollgestopft mit Zellophanpäckchen, die mit Klettverschlüssen fixiert wurden.
York wußte, daß das Essen besser werden würde, wenn sie erst einmal das Missionsmodul erreicht hatten. Doch solange sie in dieser Apollo-Kapsel steckten, mußten sie sich damit behelfen, Wasser in farblich markierte Beutel mit dehydrierter Nahrung zu pressen. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Mit dem Wasserkocher für Essen und Kaffee, der Zahnpasta und sogar einem Rasierapparat für die Männer glich die Kommandokapsel einem gemütlichen Wohnmobil.
Gershon schwebte mit ein paar golden markierten Beuteln herauf. »He. Die hab ich vorne gefunden. Hat einer von uns etwa eine Goldkarte?« flachste er.
Stone lächelte. »Nee. Ich hatte sie ausgelegt, damit ihr sie auch findet.«
York musterte die Beutel. »Rindfleisch und Kartoffeln. Karamelpudding. Gebäck. Traubensaft.« Sie schaute Stone an. »Was soll das? Davon sagt mir gar nichts zu. Ich hasse Karamelpudding.«
»Ich hielt es für angebracht. Dies war nämlich das erste Menü, das die Besatzung von Apollo 11 im All verzehrt hat. Gleich nachdem sie den Erdorbit verlassen und Kurs auf den Mond genommen hatten.«
»Schon gut«, sagte Ralph Gershon, zog einen Schlauch aus dem Trinkwassertank und füllte mit Elan die Beutel auf.
Wieder beäugte York die Beutel. Karamelpudding in memoriam. Bizarr.
Aber vielleicht war es doch angebracht.
Montag, 13. April 1970
Zentrum für Bemannte Raumfahrt, Houston
Chuck Jones klappte das Helmvisier herunter und zog an den Kabeln des Druckanzugs, um die Anschlüsse zu überprüfen.
Dann trat er an den Rand des Tanks. Das große blaue Rechteck erinnerte an ein Schwimmbecken. Es befanden sich bereits Taucher im Wasser, die wie Delphine um die Simulation herumschwammen. Kabel zogen sich durch das
Wasser und wickelten sich um die kompakte weiße Form der Simulation.
Verdammt, das ist ein Kinderspiel, sagte Jones sich. Simulationen. Wie ich Simulationen hasse.
Er drehte sich zu seinem Partner, Adam Bleeker, um. Weil der Anzug so steif war, mußte Jones wie ein Kaninchen durch die Gegend hoppeln. »Alles klar, Junge?«
Bleeker wirkte erschrocken. »Sicher. Klar doch, Chuck.«
Jones lachte in sich hinein. Er wußte, daß schon ein Lächeln genügte, um einen grünen Jungen wie Bleeker aus der Fassung zu bringen. »Guter Junge. Willkommen in der Anlage für Schwerelosigkeits-Training im sonnigen Texas. Ein schöner Anblick, nicht wahr?«
Bleeker wandte sich dem Wasser zu. »Irgendwie habe ich heute keine Lust dazu, Chuck.«
»Ich auch nicht, Adam; ich auch nicht. Aber wir müssen da durch, oder wir dürfen die schönen Vögel nicht fliegen. Bist du soweit?«
»Gehen wir rein.«
Jones trat auf die Plattform. Der Atem rauschte in den Ohren. Nun hing er über dem Becken, und mit wimmernder Hydraulik senkte die Plattform die plumpe, verkabelte Gestalt ins Wasser.
Die Taucher behängten ihn mit Gewichten, die den Auftrieb neutralisierten und somit Schwerelosigkeit simulierten. Dann packten sie Jones an den Armen und zogen ihn auf die Simulation zu. Das Wasser war wohltemperiert, damit die Taucher angenehme Bedingungen vorfanden.
Der WET-F war einer der größten Simulatoren am ZBR. Das Becken befand sich im Zentrum von Gebäude 29, einem großen Rundbau, der früher eine Zentrifuge beherbergt hatte. Nun stand ein Krankenfahrzeug am Becken, und in der Nähe war eine Dekompressionskammer. Die in ihre Einzelteile zerlegten Simulatoren für andere Übungen standen neben dem Wasser und würden im Bedarfsfall von Laufkatzen ins Becken hinabgesenkt werden.
Jones haßte den WET-F. Er fühlte sich vom ihn umgebenden Wasser bedrängt: dem Widerstand, den es jeder Bewegung entgegensetzte, dem trüben Licht, den blubbernden Blasen und den schemenhaften Tauchern.
Der Kontrast zur Stille des eiskalten Alls hätte kaum schroffer sein können.
Im Wasser sah er das massige Modell einer S-IVB, einer dritten Saturn-Stufe. Die Öffnung des Triebwerkstrichters klaffte vor ihm. Der Kopplungstunnel, ein dünner Zylinder, war an der Vorderseite der S-IVB angeflanscht, an deren Vorderseite sich wiederum ein primitives Modell einer angedockten Apollo-Kommandokapsel befand.
Nach dem Erreichen des Orbits sollte die ausgebrannte S-IVB als Raumstation - als Skylab - eingesetzt werden. Die S-IVB und die Apollo-Kapsel mit der Besatzung sollten separat ins All geschickt werden, und zwar von Saturn IB-Raketen, den kleineren und billigeren Verwandten der Saturn V. Die Astronauten würden an die Rakete andocken, indem sie die Apollo mit der Nase voran an die Kopplungsöffnung bugsierten und durch spezielle Kopplungstunnel in die Rakete krochen. Anschließend würde die Besatzung das Innere der Rakete reinigen und sich im großen Flüssigwasserstofftank häuslich einrichten.
Dieser Simulator war nicht lackiert und hatte auch sonst keinen Feinschliff. Offensichtlich war er in aller Eile zusammengedengelt worden.
Die Stimme des Versuchsleiters ertönte im Kopfhörer: »Guten Morgen, Chuck, Adam.«
Guten Morgen, du Arschloch.