»Aktiviert.«
»Gut. Bereit für die erste TVC-Kontrolle.«
»Druckanstieg im grünen Bereich«, sagte Gershon. »Alles läuft wie am Schnürchen.«
Dreißig Meter unter ihnen erwachte die MS-II-Einschuß-Stufe aus dem interplanetaren > Winterschlaf:. Vorwärmer in den kryogenischen Tanks ließen Dampf ab und bauten einen Druck auf, der Treibstoff und Oxidator zum Austritt aus den Tanks zwang. Stone und Gershon führten derweil Tests der Sequenz durch, die den Wasserstoff und Sauerstoff in den Brennkammern der vier J-S2-Triebwerke zu einem explosiven Gemisch vereinen würde.
Im Fenster über sich erkannte York das Segment eines präzisen, riesigen Kreises, der sich elfenbeinfarben im Sternenlicht abzeichnete.
»O mein Gott.«
Stone bewegte sich im Anzug und sah über die Schulter. »Stimmt was nicht?«
»Sieh dir das an. Ich glaube, es ist Hellas.« Der tiefste Einschlagkrater auf dem Mars, Ausgefüllt war er mit einem weißen See aus gefrorenem Kohlendioxid. Irgendwo dort unten hatten die Sowjets Mars 9 gelandet.
»Du wirst noch reichlich Gelegenheit haben, das zu betrachten«, sagte Stone grunzend. Seine Enttäuschung war offensichtlich. Dann wandte er sich ab und widmete sich wieder der Checkliste für die Zündung.
»Dreißig Sekunden«, sagte Stone. »Alle Werte normal. Bereit für MOI.«
Seine behandschuhte Hand schwebte über dem knubbeligen Auslöser.
York wußte, daß die Brennphase vollautomatisch ablief und von Computern in der Instrumentenkapsel der Stufenrakete kontrolliert wurde, die wie ein mit Elektronik gefüllter Krapfen an der Rückseite des Missionsmoduls klebte. Es handelte sich um ein redundantes Computer-Netzwerk, das endlose Berechnungen durchführte und dessen Komponenten sich gegenseitig kontrollierten. Es war kaum vorstellbar, daß etwas schiefging. Trotzdem schwebte Stones Hand über dem Knopf -bereit zu übernehmen, falls die Notwendigkeit sich ergab. Auf York wirkte das komisch - und dennoch irgendwie heldenhaft. Geradezu rührend’.
»Zwanzig Sekunden«, sagte Stone. »Festhalten, Leute.«
»Alle Systeme sind bereit für MOI«, sagte Gershon.
York kontrollierte ihre Station. »Roger.«
Sie überprüfte noch schnell den Sitz der Gurte und legte den Kopf auf die Kopfstütze der Liege, wobei sie versuchte, den mehrlagigen Druckanzug an der Rücken- und Beinpartie glattzustreichen.
Sie hatte Herzklopfen, und der Schweiß brach ihr aus.
»T minus zehn Sekunden«, sagte Gershon.
Stones Hand schwebte über den Kontrollen.
»Acht Sekunden.«
»Ich habe eine 99«, sagte Stone und drückte auf einen Knopf. »Weitermachen.«
York schnaufte.
»Sechs Sekunden«, sagte Gershon. »Fünf, vier. Trimmung.«
Sie hörte ein kurzes Rattern und bekam einen >Tritt in den Hinternc. Acht kleine Feststoffraketen, die kranzförmig um das MS-II angeordnet waren, hatten dem Zusatztriebwerk einen >Schubs< gegeben, um den Treibstoff in Richtung der Pumpen zu drücken, damit er nicht in den Tanks schwappte.
»Zwei. Eins«, sagte Gershon. »Zündung.«
Die Hilfstriebwerke verstummten; statt dessen setzte ein stetiger Schub ein, der auf Yorks Rücken, Hals und Beine wirkte.
Die Kraft wurde immer stärker. Die Stille war geradezu unheimlich. Der von hinten wirkende Schub vermittelte ihr das Gefühl, sich aufzusetzen und nach vorn geschleudert zu werden, in eine ungewisse Zukunft.
»Brennzeit fünfzehn Sekunden«, sagte Stone. »Null komma fünf Ge. Zunehmend.«
Nach einem Jahr in der Schwerelosigkeit war selbst dieser Druck schon enorm. Soviel zu den Übungen; war alles für die Katz.
Nun erzitterte die Rakete und sandte Schwingungen aus, die sich in den Wänden der Kabine und den Regalen für die Ausrüstung fortpflanzten. Lose Ausrüstungsgegenstände wurden durchgerüttelt. Hinter sich hörte sie ein Scheppern: ein nachlässig befestigter Ausrüstungsgegenstand hatte sich gelöst und war auf ganzer Länge durch die Kommandokapsel gefallen. »Ein Ge«, rief Stone. »Zwei.«
Der zunehmende Druck legte sich auf ihre Brust.
»Mein Gott«, sagte Gershon. Er mußte schreien, um das Rattern der Wände und der Ausrüstung zu übertönen. »Das geht noch für acht Minuten so weiter.«
»Mach keinen Aufstand«, sagte Stone barsch. »Zwei komma fünf Ge. Alles läuft prima. Wir sind voll auf Kurs. Drei komma sechs. Haltet durch, Leute.«
Sie vermochte nicht mehr zu atmen. Der Druckanzug umfing sie wie ein Schraubstock. Es war eine ebenso bizarre wie erschreckende Erfahrung.
Sie erkannte erste Anzeichen des Tunnelblicks.
Sie waren allein im Innern eines winzigen Artefakts, das über einem toten Planeten seine Bahn zog und dessen Überleben vom reibungslosen Funktionieren der Maschinen abhing.
»Vier komma drei Ge«, rief Stone. Sie hörte das durch den Schub verursachte Vibrato in seiner Stimme.
»Geschafft. Das ist der Höchstwert. Wir nähern uns dem Perizentrum.«
Stone und Gershon lasen den Status des bisherigen Manövers ab.
»Brenndauer vier vier fünf.« Vier Minuten fünfundvierzig Sekunden. Die Hälfte hatten sie geschafft. »Zehn Werte für die Winkeclass="underline" BGX minus null komma eins, BGY minus null komma eins, BGZ plus null komma eins.« Die Geschwindigkeits-Abweichung während der Brennphase betrug gerade einmal dreißig Zentimeter pro Sekunde auf jeder Raumachse. »Keine Trimmung. Minus sechs komma acht Delta-vau-ce. Treibstoff achtunddreißig komma acht. Lox neununddreißig plus fünfzig im Ausgleichsbehälter. Erhöhte Werte beim PUGS. Vorgesehen für eine zwei neunzehn komma neun mal zwölf sechs elf komma drei.«
York interpretierte die Zahlen. Die Brennphase verlief störungsfrei. Die Stufenrakete schickte sich an, in einen elliptischen Orbit mit einer Achse von dreihunderttausend beziehungsweise zwanzigtausend Kilometern zu gehen: fast perfekt.
»He, Natalie.« Das war Gershon.
»Was?«
»Guck mal nach oben.«
Mit Mühe legte sie den Kopf in den Nacken. Der Helm begrenzte die Bewegung, und unter der Beschleunigung hatte sie das Gefühl, der Schädel sei durch eine Betonkugel ersetzt worden, die an der Nackenmuskulatur zerrte.
Durch das Fenster sah sie die südliche Ebene des Mars. Und die sich über ihr ausdehnende Landschaft wurde im Zentrum von einem schwachen rosigen Glühen erhellt. Es sah aus wie ein Lichtreflex auf einer großen ockerfarbenen Bowlingkugel.
Es war das Glühen der Verbrennung, das Licht der MS-II.
Zum erstenmal in der vier Milliarden Jahre währenden Geschichte des Planeten wurde die Marsnacht von künstlichem Licht erhellt.
Freitag, 17. August 1984
Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Die Fragen stiegen aus einem Lichtermeer auf, das so intensiv war, daß York förmlich einen Sonnenbrand bekam.
»Was für ein Gefühl ist es, zur Besatzung zu gehören?«
»Was ist mit den Jungs, die Sie ausgebootet haben?«
»Wer wird die Marsoberfläche als erster betreten?«
»Wie fühlt man sich im Weltraum?«
Die drei saßen auf einem improvisierten Podium, wobei Joe Muldoon und Rick Llewellyn, der Leiter des Büros für Öffentlichkeitsarbeit der NASA, als >Aufpasser< fungierten. An der Wand hinter ihnen prangte das NASA-Logo, und auf dem Tisch vor ihnen stand das Plastikmodell eines Columbia-MEM. Der Besprechungsraum im Büro für Öffentlichkeitsarbeit war rappelvoll, und vor dem Tisch befand sich etwas, das die Alten Köpfe aus unerfindlichen Gründen als >goat fuck<, als >Ziegenfick< bezeichneten - ein Wald aus Mikrofonen und Kameralinsen direkt vor den Gesichtern der Astronauten.
Bisher hatte sich kaum jemand für Yorks Leben, ihren Hintergrund, ihre Motive, ihre Hoffnungen und Ängste interessiert. Nun war auf einmal alles interessant: ihr Werdegang, jeder Aspekt ihrer Persönlichkeit.