Die Simulationen waren so programmiert, daß der Proband an einem bestimmten Punkt versagte. Doch war das gerade Sinn und Zweck der Übung: Besatzung und Controller mit allen Eventualitäten vertraut zu machen und sie in die Lage zu versetzen, die Situation zu bewältigen. Nun hatte York aber den Eindruck, daß Ralph Gershon umgekehrt programmiert war. Es wird schwer sein, ihn davon abzuhalten, den Blecheimer eigenhändig zu landen.
York betrachtete das durchaus nicht als Nachteil.
»Fünfzehn Sekunden«, sagte Stone. »Zehn Sekunden bis DOI. Auf geht’s, Leute. Acht. Sechs, fünf, vier.«
Gershons behandschuhte Hand legte sich auf den Auslöser.
»Zwei, eins.«
Die Raketen feuerten in Folge. Sie hörten ein gedämpftes Rattern.
Und dann spürte sie den Schub im Rücken.
»Bremsanzeige an.« Ein Grinsen erschien auf Gershons Gesicht. »Sehr schön!«
Es kam ihr so vor, als ob Challenger zurückgeschleudert worden wäre. Die Verbrennung bei Feststoffraketen, so hatte man ihr gesagt, lief kerniger ab als bei FlüssigbrennstoffRaketen.
Die Brennphase hielt an. Stone verfolgte die Brenndauer. Der Raketenschub von zwanzig Kilotonnen war zu schwach, um ernstlich an der Masse des MEM zu rütteln, und deshalb waren weder ein Rattern noch Vibrationen zu spüren. Man glaubte fast nicht, daß das Schiff überhaupt bremste. Sie spürte nur einen anhaltenden Druck im Rücken und hörte das leise Zischen der feuernden Retros.
Der Schub brach abrupt ab. Die Retros waren auf die Sekunde genau ausgebrannt.
Es hatte sich scheinbar nichts verändert. Challenger war noch immer im Orbit um den Mars, und York war noch immer schwerelos und driftete in den Gurten, mit denen sie auf der Liege befestigt war.
Doch nun folgte das MEM einem Pfad, der es auf einer Kurve nach unten führte, bis das Schiff ungefähr fünfzig Kilometer über der Planetenoberfläche in die Marsatmosphäre eintrat. Der Luftwiderstand würde dann verhindern, daß das MEM wieder aus der Atmosphäre austrat.
Challenger befand sich nun in den Fängen des Mars.
Plötzlich überkam sie die unangenehme Erkenntnis, wie klein und zerbrechlich diese Kapsel war. Dies war doch etwas anderes als eine Landung auf der Erde. Bei der Erde handelte es sich um einen bewohnten Planeten mit Ozeanen, auf denen es vor Bergungsschiffen wimmelte.
Hier draußen gab es nur sie drei, die in dieser kleinen Kapsel zusammengepfercht waren und zu einer toten Welt abstiegen. Die Erde war so weit entfernt, daß sie sie nicht einmal mehr sahen. Sie näherten sich nicht dem Ende der Reise, sondern stießen immer weiter ins Unbekannte vor, wobei sie die technische Kapazität ausreizten und tödliche Risiken eingingen. Sie waren so weit von der Erde entfernt, daß das Kontrollzentrum nicht mehr in der Lage war, in Echtzeit mit ihnen zu sprechen. Es war, als ob sie eine weitere Sprosse auf der Leiter erklommen hätten.
Doch was York nun fühlte, war keine Angst, sondern Erleichterung. Wieder eine Abbruch-Schwelle überschritten. Je länger die Mission dauerte, desto geringer wurde die Wahrscheinlichkeit einer Panne.
»Gleich erfolgt Abwurf der Bremsraketen«, sagte Gershon.
Stone zählte abwärts. »Drei, zwei, eins.«
York vernahm einen dumpfen Knall, als pyrotechnische Ladungen den Metallkranz sprengten, der die Retros an der Grundfläche des MEM umspannt hatte.
Dann ertönte ein Scheppern an der Hülle, das sich wie das Trapsen eines großen Vogels anhörte: das mußte der Kranz sein, der an der Hülle entlangschrammte.
Nachdem die Bremsraketen nun abgestoßen waren, ging die Challenger wie eine Kanonenkugel in den ballistischen Fall über. Der Hitzeschild verlieh ihr die Form eines stumpfen Kegels, die klassische Gestalt einer Kommandokapsel; nur daß das MEM fast dreimal so groß war wie eine ApolloKommandokapsel.
Gershon kippte das Raumschiff, so daß die breite Basis, wo der mit einem Titan-Wabenkern verstärkte Hitzeschild am massivsten war, in die sich verdichtende Luft eindrang. Als er die Steuertriebwerke aktivierte, sah York vereinzelte Schwaden aus grauem Dunst vor dem Sichtfenster.
Der Rauch wurde dichter, und die fahlen Schwaden waberten noch am Schiff vorbei, nachdem Gershon die Brennphase schon abgebrochen hatte.
Bald verfärbte der Dunst sich rosa, und sie hörten ein leises Pfeifen, das von draußen in die Kabine drang.
Das Glühen rührte von der Luft des Mars her, deren Atome vom Hitzeschild der Challenger zertrümmert wurden.
»Gleich sind wir da!« jubelte Gershon. »Papa Mars nimmt uns unter die Fittiche!«
»Gottverdammt«, sagte Stone mit belegter Stimme.
York spürte erste, verhaltene Bremskräfte: einen leichten Druck im Magen und eine gewisse Schwere in den Beinen.
Eine Lampe an Gershons Station erlosch.
»Super!« rief er. »Wir haben null komma fünf Ge. Wir sitzen in einem Gleiter.«
Null komma fünf Ge: die Schwelle des Luftwiderstands. Und diese Schwelle von null komma fünf Ge überschritten sie nun auf dem Mars.
Die Bremskräfte wurden immer stärker. Es ist rauher als in den Simulationen. Das dürfte bei der dünnen Luft gar nicht passieren. Die Atmosphäre mußte doch eine komplexere und differenziertere Schichtung aufweisen als vermutet.
Der Druck, der auf der Brust lastete, war kaum noch zu ertragen.
Mit offenen Augen versuchte sie, jede Einzelheit der Landung aufzunehmen. Jede Zunahme des Schmerzes wird einem Atmosphären-Wissenschaftler mehr über den Mars sagen. Wahrscheinlich war sie sowieso nur einer von drei Menschen, die jemals diese Erfahrung machten.
Dennoch hätte sie in diesem Moment darauf verzichten können.
Sie hörte die Elektromagneten der Steuertriebwerke klacken.
Gershon überwachte die Anzeige der Flugführung. »Voll auf Kurs. Eins-vier-sieben Grad.«
Challenger mußte sich an einen präzisen Eintrittskorridor halten. Die zulässige Abweichung auf beiden Seiten betrug nur einen halben Grad: damit war der Korridor knapp achtzig Kilometer breit.
»Nähern uns einem Ge. jetzt.«
Nur ein Ge? York hatte jetzt schon das Gefühl, der Anzug bestünde aus Bleiröhren, als ob ein Sumo-Ringer auf ihrer Brust hocken würde. Entspricht das wirklich der irdischen Schwerkraft? Nach einem Jahr in der Mikrogravitation schien diese Last unerträglich; es war, als ob sie ihr Leben lang einen schweren Rucksack auf dem Buckel gehabt hätte.
»Eins komma fünf«, sagte Stone.
York stöhnte. Sie wurde auf die Liege gedrückt, und die Arme wurden an den Körper gepreßt. Das an sich geringe Gewicht von Gershons und Stones Ellbogen, die an ihrer Seite ruhten, wurde nun zu einer drückenden Last.
»Haltet durch, Leute«, sagte Stone. »Eins komma acht. Ihr habt im Rad viel mehr ausgehalten. Zwei komma eins.«
Gershon betätigte die Kontrollen, und seine Hand schwebte über dem Auslöser für die Reaktionssteuerung.
»Zwei komma fünf«, sagte Stone. »Komma sechs!. Komma fünf. Komma drei. Na, hab ich’s euch nicht gesagt?«
Das Licht, das durchs Fenster über York einfiel, hatte sich in ein weißgraues Glühen verwandelt. In seiner Kälte und Brillanz war es genauso hell wie das Tageslicht auf der Erde. Gershon und Stone wurden im diffusen, unirdischen Licht gebadet; das Orange der Druckanzüge bleichte förmlich aus, und die Gesichter waren hinter den Helmvisieren, auf denen Lichtreflexe tanzten, nicht zu sehen. Sie kamen sich vor wie in einer großen fluoreszierenden Lichtröhre.
Das Gewicht auf Brust und Beinen verringerte sich nun. Sie spürte, wie der Brustkorb sich ausdehnte und wie der Atem wieder ungehindert in die Lunge strömte.
Etwas flog am Fenster vorbei, ein kleines, gelb glühendes Objekt, das wie ein Feuerball aussah. Es handelte sich um einen Teil des Hitzeschilds, der von der Grundfläche des Raumschiffs abgeschmolzen war und die tödliche Wärmeenergie von der Kapsel abführte. Nun flogen noch mehr