»Auf Los drei Minuten dreißig bis zur Zündung.«, sagte Stone. »Los. Drei dreißig.«
Gershon betätigte den Schalter für die Aktivierung des Abstiegstriebwerks.
Gershon war bereit. Zum erstenmal im Verlauf der Mission hatte er das Kommando. Es vermittelte ihm ein Gefühl der Freiheit und Macht. Er würde schon dafür sorgen, daß nichts schiefging.
Zumal er diese Phase tausendmal im Simulator und MLTV-Trainingsgerät geprobt hatte. Er beherrschte es im Schlaf.
Natürlich. Aber das ist der Mars, mein Junge. Vielleicht hält diese alte Welt noch ein paar Überraschungen bereit.
Das MEM würde mit einer Präzision funktionieren müssen, die von den Testgeräten nicht erreicht worden war.
»Ich habe eine 63 für PDI«, sagte Stone ruhig. 63 war ein Relikt von Apollo, wobei die Bereitschaft des Computers abgefragt wurde, mit PDI fortzufahren, der Einleitung des raketengestützten Abstiegs.
»Tu es«, sagte Gershon. »Ich zünde.«
Stone drückte auf die WEITER-Taste. »Zündung.«
Zunächst spürte Gershon nichts. Doch die Instrumente zeigten an, daß die Landestufe mit zehn Prozent der Höchstleistung feuerte. Es war ein seidenweicher Abstieg.
Nach einer halben Minute arbeiteten die Triebwerke dann mit Vollschub.
Er hörte noch immer nichts, doch dafür wurde die Kabine nun von hochfrequenten Schwingungen durchdrungen. Sie waren unangenehm, als ob der Zahnarzt den Bohrer ansetzte. Schon die erste Abweichung von den Simulationen.
Challenger folgte dem vorgesehenen Korridor und bremste leicht ab.
»AGS und PGNS stimmen überein«, sagte Stone. Der nun als Navigator fungierende Stone teilte Gershon mit, daß die redundanten Primär- und Abbruch-Führungssysteme synchron arbeiteten. »Wir sehen gut aus bei drei, nähern uns. Drei Minuten. Höhe zwölf tausend Meter.« Bei diesem Wert handelte es sich nach wie vor um eine Schätzung der beiden Führungscomputer; das Landeradar hatte noch immer kein Ziel aufgefaßt. Außerdem verfügte Stone über den Höhenmesser, obwohl das mit dem Druck der unerforschten Marsatmosphäre arbeitende Instrument insofern ein >Experimentalgerät< war, dessen Daten gemäß der Einsatzbestimmungen nicht verwertet wurden.
»Brennphase dauert an«, sagte Stone. »Vier Minuten. Wir sollen für vier Minuten feuern lassen.«
»Rager«, sagte Gershon knapp.
»Die Daten sind gut. Zehntausend.«
Doch nun leuchteten Warnlampen auf Gershons Station auf. Das Landeradar müßte inzwischen arbeiten und die Echos der Signale auffangen, die es zum Boden schickte.
Doch nichts dergleichen.
»Wo bleibt das gottverdammte Radar, Ralph?« fragte Stone.
»Prüf es noch mal durch.«
»Ja.« Stone versuchte es erneut.
»Komm schon, Baby«, sagte Gershon ruhig. »Such dir ein Ziel.« Doch es tat sich nichts. »Komm schon.«
»Man soll doch nicht mit der Technik reden«, sagte York trocken.
»Schnauze, Natalie«, sagte Stone abwesend.
Gershon verspürte einen Anflug von Zorn. Die anderen Daten waren noch immer in Ordnung. Sie flogen mit der richtigen Geschwindigkeit, und AGS und PGNS lieferten übereinstimmende Schätzwerte für die Höhe. Doch ohne das Radar war er aufgeschmissen - selbst wenn der Höhenmesser funktionierte. Die Einsatzbestimmungen waren eindeutig: Falls das Radar in dreitausend Metern Höhe noch kein Ziel aufgefaßt hat, muß die Landung abgebrochen werden.
»Versuch, den Unterbrecher für das Landeradar zu unterdrücken«, sagte Stone.
Gershon, der vor Zorn schon ganz verkrampft war, zog den Unterbrecher für das Radar heraus und schob ihn dann in den Schacht zurück. »Ist unterdrückt.«
Die Warnlampen glommen vor sich hin. Keine Reaktion.
Er drehte sich um und schaute Stone in die Augen. »Ein guter Tag für eine Landung.«
Will sagen: Scheiß auf die Bestimmungen. Scheiß auf Houston; sie sind so weit weg, daß sie es erst erfahren werden, wenn wir schon gelandet sind. Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt noch abzubrechen. Ich sage, wir ziehen die Landung durch, und wenn wir uns mit optischen Peilungen behelfen müssen. Scheiß drauf.
Stone erwiderte den Blick.
Verdammt noch mal, du kaltschnäuziger Bastard. Was wirst du tun? Gershon spürte, wie die Kabine sich aufrichtete; beim Blick aus dem Fenster sah er nicht mehr nur den Himmel, sondern auch den Strich einer roten Landschaft. Challenger richtete sich für die letzte Phase der Landung auf.
»Siebentausend Meter«, sagte Stone. »Triebwerk drosseln. Jetzt.«
Nun würde das primäre Führungsprogramm den Schub des Abstiegstriebwerks auf sechzig Prozent reduzieren. Gershon
spürte, wie die Schwingungen abebbten. Alles läuft nach Plan. »Das ist gut gelaufen«, sagte er. »Besser als in den Simulationen.«
»Sechstausend. Alle Systeme klar. Außer der Radarsperre. Geschwindigkeit runter auf dreihundertfünfzig Meter pro Sekunde.«
Dreihundertfünfzig Meter pro Sekunde. Die Geschwindigkeit eines Flugzeugs. Gershon betätigte die Steuerung. Ich fliege in der Marsatmosphäre. Er sah aus dem Fenster. Die Sterne waren nicht mehr zu sehen, und der Himmel erschien als eine riesige Kuppel aus braunem Licht. Und er sah den Boden. Es war eine zerklüftete Landschaft, die unter ihm dahinzog. Die Sicht war gut: die Schatten, die von der tiefstehenden Morgensonne geworfen wurden, enthüllten eine kontrastreiche Detailfülle.
Challenger näherte sich der Landezone in einer weiten Kurve aus südwestlicher Richtung und überflog das alte, kraterübersäte Terrain der südlichen Hemisphäre. Fast wähnte die Besatzung sich in der Simulation einer Mondlandung: ein Krater reihte sich an den anderen, und manche waren so alt, daß sie Mehrfacheinschläge aufwiesen. Doch im Gegensatz zum Mond waren die Kraterböden hier mit Sanddünen bedeckt, und ein Krater sah so aus, als ob die Wände von fließendem Wasser eingerissen worden wären. Das ist, weiß Gott, nicht der Mond.
Die stark gekrümmte Landschaft war öde und unwirtlich. Es war ein toter Planet. Hier gab es keine Bodenstation... Keine Landebahnbefeuerung. Aber auch niemanden, der die Kiste abschießt.
»Sieben Minuten dreißig«, sagte Stone. »Fünftausend Meter. Beginn der Einflugschneise. Noch immer kein Radarkontakt.«
Sie befanden sich nun an dem Punkt, wo Gershon erstmals Sichtkontakt mit der Landezone hätte bekommen müssen. Er schaute in Flugrichtung.
Die vorgesehene Landezone befand sich nördlich eines Steilhangs an der Mündung eines Urstromtals. Laut Yorks Beschreibung würde das Tal wie ein ausgetrocknetes Flußbett aussehen. Gershon hatte die Stelle anhand von Orbiter-Fotos und Gipsmodellen studiert, bis er sie so gut wie seine Westentasche kannte.
Doch sie arbeiteten nun unter erschwerten Bedingungen: sie kamen im Tiefflug rein, die Sonne stand niedrig, das Schiff war noch um mehr als fünfzig Grad geneigt, und das Licht spiegelte sich im Fenster.
Nichts war so, wie es sein sollte. Die Topographie der komplexen, verwüsteten Landschaft änderte sich ständig. Tiefe Schatten wanderten über das Gelände, und die ockerfarbenen Oberflächenmerkmale sprangen ihn förmlich an, wobei der vertikale Maßstab durch den Kontrast vergrößert wurde.
»Viertausendfünfhundert«, sagte Stone. »Noch immer kein Kontakt.«
Scheiße.
»In Ordnung, Ralph, leiten wir die Abbruch-Prozedur ein«, sagte Stone resigniert.
Gottverdammte Hölle, er gibt auf.
»Wir führen ein Nickmanöver durch und aktivieren das Aufstiegsprogramm. Countdown für Missions-Abbruch beginnt bei zweitausendfünfhundert Metern.«