Er kontrollierte seine Station. Es war noch für vierzehn Sekunden Treibstoff im Tank. Egal; hol’s der Geier! Vierzehn Sekunden sind eine lange Zeit. Armstrong hatte auch nur noch für zwanzig Sekunden Sprit, und kein Mensch hat sich darüber aufgeregt.
Zumal auf absehbare Zeit niemand Gelegenheit haben wird, es besser zu machen als ich.
Donnerstag, 21. März 1985 Luftwaffenstützpunkt Patrick
Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Joe Muldoon, wie das von Houston kommende Flugzeug zur Landung auf Patrick ansetzte.
Obwohl die Sonne erst in ein paar Stunden aufgehen würde, fielen die Firmenflugzeuge schon in Schwärmen in den Luftwaffenstützpunkt Patrick und den Flughafen von Orlando ein. Sämtliche Straßen auf der Halbinsel glichen Bändern aus Licht: überall Staus. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht war er zu spät aufgebrochen.
Doch er war nicht früher weggekommen. Diese Nacht hatte er gar nicht geschlafen, und die vergangene Nacht auch kaum. Die Logistik des Starts war immer komplexer und detaillierter geworden. Die Presse wollte mit Informationen gefüttert werden, die Kommunikation zwischen den NASA-Zentren mußte hergestellt werden, und dann mußten auf den letzten Drücker VIP-Ausweise ausgestellt, Drehorte fürs Fernsehen ausgewählt werden und so weiter.
Teufel, sollte er den Start etwa im Radio verfolgen, mitten im dicksten Stau?
Die Stewardeß hatte ihm vor der Landung noch einen Drink angeboten. Er hatte ihn abgelehnt, wie schon die Drinks zuvor. Dazu hatte er immer noch Gelegenheit.
Nach der Landung in Patrick hatte er die Maschine hastig verlassen. Ein junger Mann im Anzug erwartete ihn; er hielt ein Pappschild mit seinem Namen hoch.
»Mr. Muldoon?«
»Ja.«
»Ich bin vom Kennedy-Raumfahrtzentrum. Ein Hubschrauber wartet auf Sie. Hier entlang, Sir.«
»Gott sei Dank.«
Muldoon hatte noch Gepäck im Flugzeug. Er fackelte nicht lang. Zum Teufel; wenn er ein frisches Hemd brauchte, würde er sich eins kaufen.
Der Assistent und er gingen zügig über das Rollfeld. »Wir fliegen wichtige Leute mit dem Hubschrauber ein, damit sie nicht im Stau stehen müssen«, sagte der junge Mann. Er machte einen hektischen, fast verstör ten Eindruck und hatte sich gerade noch unter Kontrolle. Muldoon vermutete, daß der arme Kerl schon die ganze Nacht unterwegs war.
»So schlimm?«
»Teufel, ja, Sir. Alle Straßen nach Merritt Island sind verstopft. Ein einziger Parkplatz. So etwas habe ich noch nie erlebt, Sir.«
Muldoon betrachtete ihn im Licht der Morgendämmerung. Der Junge war nicht älter als zweiundzwanzig. Dann war er 1969 sechs Jahre alt gewesen. Er erinnert sich nicht. Er hatte so etwas wirklich noch nie gesehen.
Muldoon fühlte sich alt, von der Schwerkraft förmlich in Ketten gelegt. Genauso hatte er sich ‘69 nach der Rückkehr zur Erde gefühlt. Seine Arbeit an Ares war fast erledigt, und die Depressionen, die er in all den Jahren abgewehrt hatte - wobei die Verfolgung dieses großen Ziels ihm sehr geholfen hatte -, schlichen sich wieder ein.
Seine einzige Mondlandung war lange her, und er würde nie wieder über die schneeähnliche Oberfläche spazieren.
Sie beschleunigten den Schritt. Der Hubschrauber wartete.
Gebäude für Operationen der Bemannten Raumfahrt Cocoa Beach
Ein kerniges militärisches Klopfen ertönte an der Tür.
Sie rollte sich auf die Seite und knipste die Nachttischlampe an. Vier Uhr fünfzehn morgens.
»Kompanie aufstehen! Es ist eine klare Nacht, und das Wetter soll gut werden.«
»Danke, Fred.«
Fred Haise war pünktlich. 04:15 war der erste Zeitpunkt auf der Ares-Checkliste.
Die Uhr läuft. Und wird erst in achtzehn Monaten wieder angehalten.
Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Dann machte sie das Bett. Sie würde vorerst nicht zurückkommen, doch wollte sie auch keine Unordnung hinterlassen.
Sie schaltete das Fernsehgerät ein und blickte in ihr Spiegelbild, während ein Kommentator berichtete, welche Menschenmengen sich in Cape Canaveral versammelten. Sie schaltete das Ding wieder aus.
Dann gönnte sie sich eine ausgiebige Dusche. Sie genoß es, wie das Wasser auf die Haut prasselte, wie der Schaum an ihr hinabrann und im Abfluß verschwand. Dann drehte sie das kalte Wasser auf. Sie schlotterte und spürte, wie das Blut in den Kapillaren stieg. In der Mikrogravitation zu duschen wäre nicht so einfach; sie ahnte schon, daß sie sich erst nach der Rückkehr zur Erde wieder so frisch fühlen würde wie jetzt.
Sie rubbelte sich mit dem Handtuch ab. Das raspelkurze Haar trocknete schnell. Dann zog sie ein Polohemd, eine Hose und bequeme Schuhe an.
Das blaue Polohemd war mit dem Logo für die Ares-Mission verziert: ein Kreis, dessen Umfang vom Namen >Ares< und den Namen der drei Teileinheiten gebildet wurde. Der Kreis selbst wurde vom stilisierten Ares-Verbund ausgefüllt, der einem roten Stern entgegenstrebte. Die Abgase des Schiffs formten sich zu einem Adler im Design des Sternenbanners, der mit kühnem Blick dem Raumschiff hinterherschaute.
Die künstlerische Gestaltung des Logos hatte sie von vornherein nicht überzeugt. Doch für die NASA hatte es eine patriotische Aussagekraft, und Stone und Gershon war es sowieso egal. Also prangte das kitschige und peinliche Abzeichen nun über der rechten Brust.
Als sie das Zimmer verließ, wurde sie auf dem Korridor bereits von Gershon und Stone erwartet. Sie lehnten an der Wand, hatten die Arme in fast identischer Pose verschränkt und unterhielten sich leise. Sie grinsten sie an.
Sie ging zu ihnen. Dann reichte sie beiden spontan die Hand. Stone und Gershon ergriffen je eine Hand, und zu ihrer Überraschung reichten sie sich dann auch die Hand. Für ein paar Sekunden standen die drei mitten im Gang im Kreis herum und grinsten sich an.
Merritt Island
Bert Seger hätte erwartet, daß die beiden Maultiergespanne ein Verkehrshindernis darstellten. Doch alle vier Spuren von Highway Eins waren schon verstopft. Selbst auf den Nebenstraßen kamen die Autos langsamer voran als die Maultiere, und das Problem bestand nun darin, daß die Tiere beim Zockeltempo der Autos vielleicht ungeduldig wurden.
Er hatte schon gesehen, daß manche Leute die Bemühungen eingestellt hatten, näher an den Startort heranzukommen. Sie stiegen auf die Wagendächer und bauten Fernrohrstative auf.
Eine Reihe schwarzer Gesichter lugte aus den Wagen und betrachtete das Verkehrschaos. Seger hatte ein paar der ärmsten Familien von Washington eingeladen, den Start vor Ort zu verfolgen. Alle gehörten sie der Gemeinde des Kirchleins an, das er in der Hauptstadt entdeckt hatte.
Obwohl er sich inzwischen die Frage nach dem Sinn dieser Geste stellte.
In jeder Tankstelle und Raststätte an der Autobahn - die ohnehin rund um die Uhr geöffnet hatten - drängten sich Menschen aller Altersstufen, Berufe und sozialer Schichten. Es war ein repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft. Er hatte ausgerechnet, daß der Flug zum Mars jeden amerikanischen Bürger etwa fünfzig Dollar gekostet hatte, und es hatte nun den Anschein, daß viele Bürger heute hierher gekommen waren und sich in der reizlosen Landschaft ausbreiteten, um sich von der Vorteilhaftigkeit dieser Investition zu überzeugen.
In dieser Flut von Menschen, so erkannte Seger mit sinkendem Mut, würde sein Fähnlein Demonstranten nichts ausrichten. Vielleicht gab es hier ohnehin genug Beweise dafür, daß es falsch war, drei Amerikaner zum Mars zu schicken, während so viele ihrer Mitbürger Not litten. Da mußte Seger auf diese Mißstände gar nicht erst aufmerksam machen. Er hatte erfahren, daß bei den Ärmsten der Armen noch immer Fälle von Unterernährung festgestellt wurden: hier im Raumfahrtzentrum, zu Füßen des Marsraumschiffs! Wenn solche Dinge die Leute kaltließen, dann wäre seine bescheidene Geste ohnehin zwecklos.