Als die Wartezeit vorüber war, streiften die Techniker ihnen gelbe Überschuhe über die Stiefel und hoben sie von den Liegen. Dann verbanden sie die Luftschläuche mit einer tragbaren Einheit im Format eines Koffers und drückten ihr das Gerät in die Hand.
Die drei formierten sich zu einer Linie - Stone zuerst, dann York und Gershon zum Schluß -, um die kurze Strecke vom MSOB zum Transporter zurückzulegen.
Das Gehen war anstrengend. Der Anzug war an sich schon schwer genug, doch mußte sie auch noch den Widerstand überwinden, den die aufgeblasene Druckschicht den Beinen und der Hüfte bei jedem Schritt entgegensetzte. Sie hatte den Eindruck, daß sie an einem elastischen Seil zerrte. Es war ein unangenehmes Gefühl.
Die Ironie dabei war, daß diese unförmigen, antiquierten Druckanzüge im Apollo-Stil nur während der Startphase gebraucht wurden und dann noch einmal für die Rückkehr zur Erde. Für den Rest der Mission würden die Anzüge in der Kommandokapsel des Apollo-Raumschiffs deponiert werden. Für die EVA-Operationen auf dem Mars hielt das MEM nämlich viel modernere Anzüge bereit.
In der Halle wimmelte es von Menschen: Astronauten, NASA-Verwaltungs- und Bodenpersonal, Freunde und Familienangehörige, die stumm applaudierten. Für York war es ein Spießrutenlaufen durch einen Korridor voller lächelnder Gesichter, deren Konturen durch den Helm verwischt und verzerrt wurden.
Sie gingen an Stones Familie vorbei, Phyllis und den beiden Jungen. Stone blieb stehen, stellte den Sauerstoff-Tornister ab und breitete die Arme aus. Er drückte seine Frau an die breite Brust des Anzugs und reichte den Jungen einen behandschuhten Finger. Er strich ihnen durchs Haar und warf ihnen Handküsse zu. Die Jungen wirkten wie Zwerge im Vergleich zu ihrem im aufgeblähten Anzug steckenden Vater.
Doch York wußte, daß der Anzug Stone von seiner Familie isolierte. Weder spürte er sie mit den dicken, elastischen Handschuhen noch vernahm er ihre Stimmen durch den Helm; wenn er überhaupt etwas hörte, dann war es ein leises Raunen. Die einzigen Geräusche im des Anzug waren das Zischen der Luft und das Rasseln des Atems.
Stone war nur ein paar Zentimeter von seinen Söhnen entfernt, doch es hätten genauso gut tausend Meilen sein können.
Sie verließen das MSOB.
Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Die Presse war hinter den Absperrungen aufmarschiert, und sie geriet in ein Sperrfeuer als Blitzlichtern. Der letzte Fototermin, bevor sie eine neue Welt eroberten - oder auf der Strecke blieben.
Eine Rampe führte in den Transporter. Als sie Wladimir Wiktorenko am Wagenschlag stehen sah, verlor sie fast die Fassung. Er trug die Galauniform eines sowjetischen Luftwaffenoffiziers.
Phil Stone nahm Haltung an und salutierte vor Wiktorenko. Seine Stimme drang aus Yorks Kopfhörer: »Meine Besatzung und ich sind fertig. Wir melden Bereitschaft für Ausführung der Ares-Mission.«
Wiktorenko salutierte ebenfalls. York hörte seine Antwort zwar nicht, doch sie ahnte zumindest, was er sagte. Ich erteile Ihnen Starterlaubnis. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Flug und eine sanfte Landung. Noch ein sowjetisches Ritual.
Stone ging zum Transporter, und die Techniker halfen ihm auf seinen Platz.
Nun blieb York vor Wiktorenko stehen. Sein Lächeln wurde noch herzlicher, und er formte die Lippen zu einem Wort. Maruschka.
Sie spürte, wie etwas in ihr durchbrach, etwas, das sie seit dem Moment, als sie an diesem Morgen aufgewacht war, zurückgehalten hatte.
Achtlos ließ sie das Sauerstoffgerät fallen und ging auf Wladimir zu. Auch auf die Gefahr hin, daß der korrekte Sitz der Uniform darunter litt, umarmte er sie mit einer solchen
Kraft, daß sie es noch durch die Schichten des Druckanzugs spürte.
Schließlich trat er wieder zurück, und sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe Ba-riis gefunden. Danke.«
Er sagte wieder etwas, griff in die Tasche und holte eine Handvoll Steppengras heraus. Dann steckte er ihr das Kraut in eine Ärmeltasche des Anzugs, ergriff ein letztes Mal ihre Arme und half den Technikern, sie in den Wagen zu verfrachten.
Newport Beach
Es war ein schöner Frühlingsmorgen.
JK Lee trat auf die Veranda und sog die Luft ein. Er hatte einen Riecher für das Wachstum von Pflanzen.
Er mußte husten.
Die Lunge schien sich im Lauf der Jahre an die für ein Flugzeugwerk charakteristischen Ausdünstungen gewöhnt zu haben: Kerosin, Schmierstoffe, Ozon, Gummi, heißes Metall. Nachdem er diesen technischen Kokon nun gesprengt hatte, hatte er das Gefühl, auf einem Planeten mit einer fremden Atmosphäre gestrandet zu sein.
Er zündete sich eine Zigarette an und fühlte sich in der Wolke aus Nikotin und Teer gleich besser.
Er verspürte das Bedürfnis, den Rasen zu mähen.
Also ging er in den Geräteschuppen und inspizierte den Mäher. Er ölte die Messer und überprüfte die Zündkerzen. Im Schuppen war es warm und dunkel, und es roch nach Holz.
Er hörte die Stimmen der Kommentatoren von Cape Canaveral, die aus den angrenzenden Häusern drangen. Die ganze Nachbarschaft schien an diesem Donnerstagmorgen in den Startvorbereitungen zu stecken. Und nicht nur die Nachbarschaft, sondern ganz Amerika.
Jennine rief ihn ins Haus.
Sie reichte ihm den Telefönhörer. Jack Morgan war dran. Er fragte, ob Lee und Jennine nicht zu ihm rüberkommen wollten, um den Start bei ein paar Bieren zu verfolgen. Lee lehnte nach kurzer Überlegung ab und sagte, er wolle heute im Garten arbeiten.
Lee hatte nämlich gehofft, die NASA würde ihn nach Cape Canaveral einladen, um den Start vor Ort zu verfolgen. Das wäre eine nette Geste gewesen. Doch die Hoffnung hatte sich zerschlagen.
Er und Morgan plauderten für eine Weile über die alten Zeiten.
Morgan hatte Columbia inzwischen verlassen und sich als Spezialist für Raumfahrtmedizin selbständig gemacht. Er verdiente nun viel mehr Geld als früher, indem er als Freiberufler für Columbia arbeitete. Dennoch hatte er der Firma länger angehört als Lee.
Die Degradierung zum Grüßaugust hatte Lee so zugesetzt, daß er in den Vorruhestand gegangen war.
Art Cane war vor einiger Zeit gestorben; nicht einmal achtzehn Monate, bevor das Paradestück seiner Firma, das MEM 014, auf dem Mars landen sollte. Und nun war Gene Tyson - das selbstgefällige Arschloch, das damals JKs Posten übernommen hatte - Chef der Firma.
Wie dem auch sei, Lee widmete sich wieder dem Rasenmäher und rollte das Ding schließlich auf den Rasen. Als er das Gerät startete, übertönte das Knattern des Zweitaktmotors die Stimmen der Reporter von Canaveral.
Nach einer Weile kam Jennine wieder nach draußen. Das Sonnenlicht verlieh ihrem von grauen Strähnen durchzogenen Haar einen silbernen Glanz. Sie reichte ihm ein Glas Limonade, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm ins Haus.
Das Fernsehgerät lief natürlich.
Und da war es auch schon, das vertraute Bild der Saturn VB-Stufe, die aussah wie ein Bündel weißer Nadeln. Die in der Hitze des Florida-Morgens flimmernde Luft verzerrte die Entfernung zwischen der Kamera und der Startrampe. JK erspähte die Ausbeulung der MEM-Verkleidung in der Mitte der Stufenrakete: oberhalb der ersten Stufe und der Zusatztriebwerke und unterhalb der filigranen Konturen des Missionsmoduls und des Apollo-Raumschiffs.
»Geh dorthin«, sagte Jennine plötzlich. Sie hatte einen Fotoapparat in der Hand.
»Hä?«
Sie fuchtelte mit der freien Hand. »Stell dich neben den Fernseher. Mach schon.«
Der erst zur Hälfte gemähte Rasen kam ihm in den Sinn.
Dann stellte er sich doch neben das Fernsehgerät.
Langsam hob JK Lee die Hand zum Salut, während auf der Mattscheibe neben ihm das Mars-Raumschiff gezeigt wurde. Seine Frau machte ein Bild von ihm.