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Startkomplex 39-A,

Merritt Island

Die dreizehn Kilometer lange Strecke vom MSOB zur Startrampe führte größtenteils über den Highway Eins, die Küstenstraße. Obwohl dieser Streckenabschnitt von der Polizei gesperrt worden war, kam der Transporter mit dem Troß von Begleitfahrzeugen dennoch nur im Schneckentempo voran.

Stone schaute stoisch aus dem Fenster, und Gershon trommelte mit den behandschuhten Fingern aufs Knie.

Das als Rechteck angelegte Kennedy-Raumfahrtzentrum war ein weitläufiger, leerer Komplex, durchzogen von staubigen Straßen und alligatorverseuchten Entwässerungskanälen. Die

Gebäude waren mehrstöckige, verwitterte Kästen - sogar noch häßlicher als die Architektur von Houston - mit dem typischen Flair einer Forschungseinrichtung der Regierung. Im Licht der tiefstehenden Morgensonne vermittelte die flache und staubige Anlage dem Betrachter das Gefühl, sich an einem Strand zu befinden.

Hin und wieder sah York hinter der Absperrung Menschen, >Normalbürger<, die ihr zuwinkten und applaudierten. Sie fühlte sich wie betäubt und isoliert.

Am östlichen Horizont sah sie die unscharfen Konturen der Startkomplexe, die großen Gerüste, die sich über die Ebene erhoben. Viele der Gerüste waren außer Betrieb und beschädigt; sie wirkten wie Wracks, die an diese triste Küste getrieben worden waren und nun hier vergammelten - an der Grenze zwischen Meer und Land, die von den Gezeiten ständig neu gezogen wurde.

Der Transporter bog vom Highway auf den Zubringer zur Startrampe ab.

Plötzlich sah York zum erstenmal an diesem Tag die Saturn: die kraftvolle weiße Nadel in der Mitte, umringt von vier kompakten Feststoff-Boostern. Und das Ganze wurde vom massiven Gerüst des Startturms umschlossen, der von der achteckigen Grundfläche der Startrampe aufragte. Die Rakete wurde von Flutlichtern angestrahlt, die das Morgenlicht überblendeten. Sie sah die Eisschicht auf den kryogenischen Brennstofftanks. Dampfschwaden traten aus der Zentralsäule aus und zogen wie Wolken über den Startkomplex dahin.

Die Sonne kam hinter einer Wolke hervor und färbte den Himmel orangefarben und golden. Licht spielte über die Startrampe, und die neben dem Startturm stehende Saturn schimmerte wie eine Perle.

Der Transporter fuhr bis an das Betonfundament der Startrampe heran. Die Türen schwangen auf, und Techniker halfen York beim Aussteigen.

Die Saturn ragte vor ihr in den Himmel. Das diffuse Licht der Morgendämmerung verlieh der Rakete eine intensive Präsenz. Mit den Nieten, die sie zusammenhielten und dem weißen Anstrich erweckte sie den Eindruck, in Handarbeit gefertigt worden zu sein. Ihre Komplexität, das Von-Menschenhand-gefertigt-Sein, war schier mit Händen zu greifen.

Am Betonfundament der Startrampe war ein Schild angebracht: GO, ARES!

Sie überblickte die >Kriechspur< von der Montagehalle, dem VAB21, bis hierher. Das Gebäude selbst zeichnete sich als schwarzweißer Quader am Horizont ab, dessen Größe nicht zu bestimmen war. Die >Kriechspur< war ein Pfad aus massiven gelben Steinblöcken, der sich schnurgerade zum VAB in die Unendlichkeit erstreckte; er verlief entlang des Kanals, der eigens für die Lastkähne gebaut worden war, welche die Saturn-Stufen zum VAB beförderten. Sie sah die Spurrillen im Straßenpflaster, wo das Gleiskettenfahrzeug die Saturn zum Startkomplex gebracht hatte. Sie wirkten wie die Fußabdrücke eines Dinosauriers.

Nun wurde ihr erst richtig bewußt, worauf sie sich bei dieser Sache überhaupt eingelassen hatte. Das Ereignis, das sie seit Monaten geprobt und diskutiert hatten, stand unmittelbar bevor. Man würde sie wirklich in der kleinen Kabine an der Spitze dieser Rakete einschließen und in den Weltraum schießen. Mein Gott, sagte sie sich. Sie machen ernst.

In den letzten Wochen war York immer wieder zur Startrampe hinausgefahren. Sie hatte die Rampe als lauten, betriebsamen Ort erlebt, der einer Industrieanlage ähnelte: mit laufenden Maschinen, mit Aufzügen, die an den Starttürmen auf und ab glitten, mit Leuten, die emsig umherwuselten.

Doch heute war ein anderer Tag. Heute gab es außer der Besatzung und den Technikern keine Menschenseele im Umkreis von fünf Kilometern.

Nach den vielen Menschen im MSOB und den Blicken, die sie auf das Millionenheer der Zuschauer auf dem Gelände von Cape Canaveral erhascht hatte, war es für York ein niederschmetterndes und schreckliches Erlebnis, sich nun im Epizentrum dieser Betonwüste zu befinden, vor sich die dräuende Masse der Saturn VB. Es war wie eine Begegnung mit dem Tod.

York, die noch immer das Atemgerät trug und deren einziger Begleiter das Wispern des Sauerstoffs war, folgte Stone zum Aufzugskäfig an der Basis des Startturms.

Vielleicht sehe ich die Erde nun zum letztenmal. Hier und jetzt auf dem versengten Beton. Vielleicht ist das wirklich ein Countdown zum Tod.

Jacqueline B. Kennedy-Raumfahrtzentrum

Die vom Atlantik wehende Brise blähte die Flaggen hinter den hölzernen Absperrungen an der Tribüne in der Nähe des VAB. Die Tribüne war mit über zwanzigtausend Zuschauern besetzt, wie man Muldoon gesagt hatte, darunter fünftausend Ehrengäste und viertausend Journalisten. Erschienen waren Prominente, Politiker, Familien und Freunde der Besatzung.

Eine Million Menschen hielten sich im Umkreis von hundert Kilometern um diesen Ort auf.

JFK war auch da. Er saß im Rollstuhl und versuchte, sich mit einer großen Sonnenbrille zu tarnen. Trotzdem wirkte er viel älter als ein Achtundsechzigjähriger. Der Rest von Muldoons alter Apollo-Besatzung war ebenfalls erschienen, und die PR-Experten der NASA ließen die dreiköpfige Truppe -Armstrong, Muldoon und Collins - in Linie hinter dem gebrechlichen, alten Ex-Präsidenten antreten, mit der Saturn im Hintergrund.

Nachdem der Öffentlichkeitsarbeit Genüge getan war, nahm Muldoon Platz.

Er blickte nach Osten, in die Morgensonne. Es war ein klarer, windstiller Morgen, der nur von vereinzelten Wolken getrübt wurde. Der Wetterdienst sagte mit einer Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent gute Witterungsbedingungen für den Start voraus.

Das VAB stand als wuchtiger Block zu Muldoons Linken, und die Scheiben der davor geparkten Fahrzeuge glänzten wie schillernde Käfer. Auf dem Rasen vor ihm befanden sich Kameramänner, die Fahnenstange und die große digitale Countdown-Uhr. Auf der anderen Seite zog der Kanal sich durchs Blickfeld. Dahinter war eine Baumreihe. Und hinter den Bäumen - am vom Morgendunst eingetrübten Horizont -erspähte er die blaugrauen Formen der beiden Rampen des Startkomplexes 39. 39-A, die Rampe für Ares, befand sich zur Rechten.

Wenn er den Blick weiter nach rechts wandte, sah er weitere Startkomplexe, die wie Skelette in den Himmel ragten: die Interkontinentalraketen, welche entlang der Atlantikküste stationiert waren.

Das Kennedy-Weltraumzentrum hatte sich seit seinem ersten Flug mit Gemini sehr verändert. Noch aus dieser Entfernung sah man, in welchem Ausmaß das Weltraumprogramm gestutzt worden war. Die Zahl der Beschäftigten war um die Hälfte reduziert worden. Der Startkomplex 19, von dem aus er mit Gemini gestartet war, existierte noch und wurde für unbemannte Titan-Starts genutzt. Doch von den insgesamt sechsundzwanzig Startkomplexen des Raumhafens waren nur noch zehn in Betrieb. Die Startrampen zerfielen, und die verrosteten Starttürme waren bereits abgerissen und von der NASA an Schrotthändler verhökert worden.

Doch Komplex 39-A existierte noch. Einst war er von dort mit Apollo gestartet. Und nun stand die Ares-Stufenrakete dort und wartete auf die Startfreigabe.

Hinter Muldoon unterhielten zwei alte Damen sich über die Start-Parties, die sie im Lauf der Jahre in ihren Gärten in Florida veranstaltet hatten, derweil mit Elite-Astronauten bemannte Raumschiffe über den Köpfen am nächtlichen Himmel ihre Bahn gezogen hatten.