Diese Versuchsstation befand sich in einer weiten Senke, die zwischen zwei großen Auffaltungen lag: dem Colorado-Plateau und der Wasatch Range im Osten sowie der Bergkette der Sierra Nevada im Westen. Die paar Baracken mit Dächern aus Teerpappe wirkten in der wuchtigen Geologie der Wüste wie Fliegendreck.
Sie erreichten die Versuchsstation. Die Anlage war etwa neun Meter hoch und wirkte ebenso primitiv wie komplex. York erkannte ein dünnes, zylindrisches Gebilde, das von einem Gerüst eingeschlossen war. Das Gerüst war unlackiert und teilweise schon korrodiert. Das Ding war auf einem Flachwagen montiert, der an eine kleine Lokomotive angehängt war. Röhren führten vom Gerüst zu anderen Bereichen der Versuchsstation, und in der Ferne sah sie kugelförmige Tieftemperatur-Tanks in der Sonne glänzen: sie tippte auf flüssigen Wasserstoff.
Petey Priest preßte das Gesicht gegen den MaschendrahtZaun des Testgeländes, daß rautenförmige Abdrücke auf seinem Gesicht zurückblieben. Fasziniert starrte er auf die Anlage.
York beobachtete Conlig und Priest.
Mike Conlig war gebürtiger Texaner und siebenundzwanzig Jahre alt. Er war etwas kleiner als York, war von stämmiger Statur und hatte mit Schwielen besetzte und narbige Hände. Das schwarze Haar, das er zu einem Pferdeschwanz geflochten hatte, verriet seine irische Abstammung. Das Hemd spannte sich über einem Bauchansatz.
York hatte Mike vor einem halben Jahr auf einer Party in Ricketts House am Caltech kennengelernt, das eine halbe Stunde Fahrtzeit von UCLA entfernt war. York war dabei ein gewisses Risiko eingegangen, denn Frauen waren im Caltech nicht zugelassen. Natalie gefielen sein agiler Verstand und der Umstand, daß er sie wegen ihres Intellekts respektierte. und sein muskulöser Körper.
Am selben Abend noch war sie mit Mike ins Bett gegangen.
Mike war das genaue Gegenteil von Ben Priest, sagte sie sich, während sie die beiden betrachtete.
Ben Priest war einunddreißig Jahre alt. Er war groß, drahtig und hatte ständig ein Grinsen im Gesicht. Er war Marineflieger mit einem Dutzend Jahren Erfahrung, davon zwei Jahre bei der Erprobungsstelle der Marine in Patuxent River, Maryland -und seit 1965 war er NASA-Astronaut, obwohl er noch keinen Weltraumflug absolviert hatte.
York wußte, daß Mike und Ben Freundschaft geschlossen hatten, als Ben in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Astronauten hierher versetzt worden war. Sie zweifelte nicht daran, daß Mike sich der in der Station herrschenden Kameraderie anpaßte - Männer in provisorischen Behausungen an der Grenze der Zivilisation, die den ganzen Tag mit NERVA spielten und sich abends einen hinter die Binde kippten.
Bei Mike hatte das körperliche Auswirkungen, sagte sie sich, aber nicht bei Ben.
Nun wurden auf dem Testgelände aus Sicherheitsgründen die Flutlichter eingeschaltet, und der Turm verwandelte sich in eine Skulptur aus Schatten und schimmernden Reflexen, die Karikatur eines Raumschiffs. Als ob der Ehrgeiz, von dem die hier arbeitenden Männer und Frauen erfüllt waren, die Geometrie dieses Orts so geprägt hätten, daß er nicht ganz von dieser Welt schien.
Während er mit Priest die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ, ließ Mike Conlig Natalie nicht aus den Augen. Sie ließ indes den Blick über die Anlage schweifen. Natalie war ein >langes Elend< und hatte eine intensive Ausstrahlung. Das schwarze Haar hatte sie zurückgebunden, und diese buschigen Augenbrauen, die sie so haßte, waren nun in Konzentration zusammengezogen.
Dieser Besuch war wichtig für Conlig.
Indem er und Priest sie hierher gebracht hatten und ihr Einblick in ihre Arbeit gewährten, verstießen sie streng genommen gegen die Vorschriften der NASA und AEC; und ein Kind wie Petey hatte hier schon gar nichts verloren. Doch an einem so entlegenen Ort siegte die Wirklichkeit über die Vorschriften. Wir sind alle brave Jungs hier draußen, sagte er sich.
Zumal er großen Wert darauf legte, Natalie diesen Ort zu zeigen: wo er arbeitete, wie er sein Leben verbrachte. Das war ihm ein paar Regelverstöße wert. Er wollte, daß Natalie Jackass Flats mit eigenen Augen sah.
Natalie reagierte grundsätzlich mit Mißtrauen und Argwohn auf Forschungsprojekte, die von der Regierung finanziert wurden. Conlig sah das jedoch ganz anders. Für ihn war dieses schäbige Versuchsgelände das Tor zur Zukunft: zu anderen Welten, zu Kolonien auf dem Mond.
Und letztlich zum Mars.
Ben Priest versuchte, Natalie die Versuchsanlage zu erklären. Er lenkte ihren Blick auf das Objekt innerhalb des Gerüsts und sagte ihr, sie solle versuchen, es zu identifizieren. Eine formschöne Düse ragte oben in den Himmel.
»Ach«, sagte sie. »Ich verstehe. Es ist eine Rakete. Und das da oben ist die Düse. Es ist eine Rakete auf der Abschußrampe. Wie in Cape Kennedy.«
Ben Priest lachte. »Nur daß sie auf dem Kopf steht.«
»Eines Tages wird sie von Kennedy starten«, sagte Conlig defensiv. »Es wird nicht mehr lange dauern. Jedenfalls ein Nachfolgemodell; dieser Vogel wird nie fliegen.«
»Dies ist ein Triebwerk der jüngsten Generation«, sagte Ben. »Es ist unser ganzer Stolz. Der XE-Prototyp ist fast serienreif. Die ersten Geräte, die hier vor zehn Jahren konstruiert wurden, hießen Kiwis.«
»Ach«, sagte York. »Vögel ohne Flügel.«
»Und nun«, sagte Ben, »arbeiten wir an einer Reihe von Projekten unter der Sammelbezeichnung NERVA. Das steht für >Nuklearantrieb.<«
»>. für raketengestützte Versuchs-Anwendungen<. Ich weiß.«
»Aber wir dürfen nach wie vor nur Vögel ohne Flügel bauen«, sagte Priest. »Wir sind stolz auf dieses Baby, Natalie. Wir haben ihm einen Schub von fast fünfzigtausend Pfund eingehaucht. Und wir haben achtundzwanzig Starts absolviert. Zuverlässigkeit wird nämlich ein wichtiger Faktor bei Langstrecken-Raumflügen sein.«
Conlig beobachtete Natalie und versuchte ihre Reaktion zu ergründen.
Conlig, der sechs Jahre älter war als Natalie, hatte den Hochschulabschluß fast in Rekordzeit geschafft - sein Fachgebiet waren exotische, hitzebeständige RefraktionsWerkstoffe für miniaturisierte Fissionsreaktoren.
Conlig war sicher - und Natalie auch -, daß er in seiner Disziplin eine Spitzenposition erreichen würde. Und weil -wenn man Spiro Agnew Glauben schenken wollte - Raketen mit Nuklearantrieb eine Revolution in der Raumfahrt einleiten würden, würde er wohl einen sehr hohen Gipfel erklimmen. Inzwischen würde die Geologie York jeweils für mehrere Monate an einen anderen Ort führen. Es wäre eine komische Beziehung, um es milde auszudrücken.
Das Bewußtsein, daß sein Leben vom Erfolg oder Mißerfolg einer nuklearen Rakete bestimmt werden würde, vermittelte ihm auch ein komisches Gefühl. Ich lebe im Grunde schon in der Zukunft, sagte er sich.
Für Conlig waren Raketen mit Atomantrieb die simpelsten und ästhetischsten Maschinen der Welt. Im Gegensatz zu einer Saturn-Rakete wurde bei ihnen nichts verbrannt. Es wurde nur hochverdichteter flüssiger Wasserstoff in einem Reaktorkern erhitzt, und an der Rückseite des Schiffs trat dann heißes Gas aus.
Eine nukleare Zusatzstufe würde die Leistung einer Saturn V um den Faktor Zwei erhöhen: es wäre nun möglich, mehr als die Hälfte der bisherigen Nutzlast zum Mond zu befördern.
Doch zuvor waren noch erhebliche technische Probleme zu lösen.
Bei der Betriebsflüssigkeit handelte es sich um flüssigen Wasserstoff, der auf fünfundzwanzig Grad über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt worden war. Wenn der Wasserstoff in den Reaktor strömte, wurde er jedoch auf eine Temperatur von über zweitausend Grad erhitzt.
Kühlsysteme waren Mike Conligs Spezialität.
Es gab aber noch andere Schwierigkeiten. So mußte die Besatzung zum Beispiel vor Strahlung abgeschirmt werden. Außerdem konnte man nur eine begrenzte Anzahl von Raketen bündeln, weil die Neutronenemissionen interferierten etc.
Dennoch machte das Projekt Fortschritte. Kurzfristig peilte man einen RIFT, einen Reaktor-im-Flug-Test, an. Doch bis dahin hatten sie noch eine Menge zu tun. Die Nukleartechnik mußte mit größter Sorgfalt gehandhabt werden: nicht