Sie hörte niemanden hinter sich und vergeudete keine Zeit damit, in die Dunkelheit zu blinzeln. Aber sie ging davon aus, daß ihre Eltern und Tucker als Raubtiere stumme Verfolger sein und sich erst zu erkennen geben würden, wenn sie zuschlügen.
Die Wälder an der Küste bestanden größtenteils aus einer breiten Vielzahl von Pinien, aber es gediehen auch verein -zelte Tupelobäume, deren Blätter bei Tage eine scharlachrote Herbstfarbe hatten, jetzt aber so schwarz wie Fetzen eines Leichentuches waren. Chrissie folgte dem verschlungenen Pfad, während sich das Land zu einem Tal hin absenkte. In mehr als der Hälfte des Waldes standen die Bäume so weit auseinander, daß das kalte Licht des Viertelmonds bis ins Unterholz schien und den Pfad mit einer eisigen Kruste aus Licht überzog. Der aufsteigende Nebel war noch zu dünn, das fahle Licht zu verdecken, aber an anderen Stellen hielten ineinander verflochtene Zweige das Mondlicht ab.
Nicht einmal da, wo das Mondlicht schien, wagte Chrissie schnell zu laufen, denn sie würde sicher über die Oberflächenwurzeln der Bäume stolpern, die sich über den ausgetretenen Weg zogen. Hier und da bildeten herabhängende Zweige eine weitere Gefahr für einen Läufer, aber sie bemühte sich dennoch, so schnell sie konnte zu gehen.
Sie dachte, als würde sie aus einem Buch über ihre eigenen Abenteuer vorlesen, aus einem jener Bücher, die sie so gerne las: Die junge Chrissie war ebenso sicher zu Fuß, wie sie ausdauernd war, sie besaß eine rasche Auffassungsgabe und ließ sich von der Dunkelheit ebensowenig einschüchtern wie vom Gedanken an ihre monströsen Verfolger. Welch ein Mädchen!
Sie würde bald den Fuß des Hügels erreicht haben, wo sie sich nach Westen zum Meer oder nach Osten zur Landstraße wenden könnte, wo eine Brücke über das Tal verlief. In dieser Gegend, mehr als zwei Meilen vom Stadtrand von Moonlight Cove entfernt, wohnten nur wenige Leute; noch weniger wohnten am Meer, da Teile der Küste unter Naturschutz standen und nicht bebaut werden durften. Sie hatte zwar kaum Chancen, am Pazifik Hilfe zu finden, aber die Aussichten im Osten waren nicht nennenswert besser, denn die Landstraße war wenig befahren, und dort befanden sich kaum Häuser; zudem konnte es sein, daß Tucker mit seinem Honda dort Streife fuhr, weil sie davon ausgingen, daß sie dorthin laufen und das erstbeste Auto anhalten würde, das des Weges kam.
Sie überlegte sich verzweifelt, wohin sie sich wenden sollte, während sie die letzten Meter zurücklegte. Die Bäume rechts und links vom Weg wichen dem niederen, unentwirrbaren Filz von struppigen Krüppeleichen, die Chaparral genannt wurden. Gewaltige Farne, die wie geschafften waren für die gelegentlichen Küstennebel, wucherten über den Pfad, und Chrissie erschauerte, während sie sich durch sie drängte, denn ihr war, als würden zahllose, winzige Händchen nach ihr greifen.
Ein breiter, aber flacher Bach teilte das Tal; an seinem Ufer blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Das Bachbett war weitgehend ausgetrocknet. Um diese Jahreszeit floß das Wasser nur ein paar Zentimeter breit träge durch die Mitte des Kanals und funkelte im Mondlicht.
Die Nacht war windstill.
Totenstill.
Sie schlug die Arme um sich und merkte jetzt erst, wie kalt es war. Sie war mit ihren Jeans und dem Flanellhemd für einen warmen Oktobertag angezogen, nicht für eine kalte, klamme Herbstnacht.
Sie war durchgefroren, außer Atem, ängstlich und wußte nicht, wie sie weiter vorgehen sollte, am meisten aber war sie wütend auf sich selbst, weil Körper und Geist so schwach waren. Ms. Andre Nortons wunderbare Abenteuergeschichten waren voll von kühnen jungen Heldinnen, die wesentlich längere Verfolgungen aushaken konnten - und bittere Kälte und andere Härten als diese, und sie hatten den Verstand immer beisammen und konnten schnelle Entscheidungen treffen - und meistens die richtigen.
Es spornte Chrissie an, sich mit einer Heldin von Andre Norton zu vergleichen, und sie trat entschlossen ins Bachbett hinunter. Sie überquerte drei Meter schlammige Erde, die die schweren Regenfälle des letzten Frühlings angeschwemmt hatten, und versuchte, über den schmalen, purpurnen Wasserlauf zu springen. Sie verfehlte das gegenüberliegende Ufer nur um Zentimeter und machte ihre Tennisschuhe naß. Sie ging dennoch unverdrossen weiter durch lehmigen Boden, der in Klumpen an ihren nassen Schuhen haften blieb, erklomm das gegenüberliegende Ufer des Bachbetts, wo sie sich weder nach Westen noch nach Osten wandte, sondern nach Süden, den gegenüberliegenden Hügelkamm hinauf und zum nächsten Ausläufer des Waldes.
Sie kam jetzt in neues Gelände am äußersten Abschnitt des Waldes, der jahrelang ihr Spielplatz gewesen war, aber sie hatte keine Angst davor, sich zu verirren. Sie konnte Westen und Osten anhand der dünnen Nebelschwaden und der Position des Mondes unterscheiden. Mit diesen Hilfsmitteln konnte sie einen zuverlässigen Südkurs einschlagen. Sie glaubte, daß sie innerhalb einer Meile zu einer Gruppe von Häusern und der ausgedehnten Anlage von New Wave Mikrotechnologie kommen würde, die zwischen den Stallungen der Fosters und der Stadt Moonlight Cove lag. Dort könnte sie Hilfe finden.
Aber dann würden natürlich erst ihre wahren Probleme anfangen. Sie mußte jemanden davon erzählen, daß ihre Eltern nicht mehr ihre Eltern waren, daß sie sich verändert hatten, von einem Geist besessen oder irgendwie verein -nahmt worden waren... von einer unbekannten Macht. Und daß sie sie selbst in eine von ihnen verwandeln wollten.
Klar, dachte sie. Viel Glück.
Sie war klug, redegewandt, verantwortungsbewußt, aber sie war nur ein elfjähriges Mädchen. Es dürfte ihr schwerfallen, jemanden davon zu überzeugen, ihr zu glauben. Diesbezüglich hatte sie keine Illusionen. Sie würden zuhören und nicken und lächeln, und dann würden sie ihre Eltern anrufen, und ihre Eltern würden sich glaubwürdiger anhören als sie selbst...
Aber ich muß es versuchen, sagte sie zu sich, während sie die südliche Wand des Tals zu erklimmen begann. Wenn ich nicht versuche, jemanden zu überzeugen, was kann ich sonst tun? Mich einfach aufgeben? Auf gar keinen Fall.
Ein paar hundert Meter hinter ihr kreischte etwas hoch oben am Hang, den sie gerade heruntergekommen war. Es war kein menschlicher Schrei, aber auch nicht der eines Tieres. Dem ersten schrillen Schrei antwortete ein zweiter, ein dritter und jeder Schrei war eindeutig von einem anderen Wesen, denn jeder wurde mit einer deutlich unterscheidbaren Stimme ausgestoßen.
Chrissie blieb auf dem steilen Hügel unter dem Baldachin eines süßlich riechenden Busches stehen und hielt sich mit der Hand an einer aufgesprungenen Birkenrinde fest. Sie drehte sich herum und lauschte, wie ihre Verfolger gleichzeitig zu heulen anfingen, ein hallender Schrei, der an das Bellen von Koyoten erinnerte...aber seltsamer, furchteinflö-ßender war. Das Geräusch war so kalt, daß es ihr durch Mark und Bein fuhr und sich wie eine Nadel in ihre Knochen bohrte.
Das Bellen war wahrscheinlich Ausdruck ihrer Zuversicht: Sie waren sicher, daß sie sie erwischen würden, daher mußten sie nicht mehr schweigen.
»Was seid ihr?« flüsterte sie.
Sie vermutete, daß sie in der Dunkelheit so gut wie Katzen sehen könnten.
Konnten sie sie auch wittern, wie Hunde?
Ihr Herz schlug beinahe schmerzhaft in der Brust.