28
Im Keller der Ikarus-Kolonie waren drei Körper zu einem geworden. Die entstandene Wesenheit war ohne feste Gestalt, ohne Skelett, ohne hervorstechende Merkmale, eine Masse pulsierenden Gewebes, das lebte, obwohl es kein Gehirn, kein Herz und keine Blutgefäße hatte, und keine irgendwie gearteten Organe. Es war urzeitlich, eine dicke Proteinsuppe, ohne Gehirn, aber bei Bewußtsein, ohne Augen, aber sehend, ohne Ohren, aber hörend, ohne Eingeweide, aber hungrig.
Die Ballungen der Mikrokugeln im Inneren hatten sich aufgelöst. Der innere Computer konnte in der radikal veränderten Substanz des Wesens nicht mehr funktionieren, umgekehrt hatte das Wesen keinerlei Verwendung mehr für die biologische Unterstützung, für die die Mikrokugeln entworfen worden waren. Es war nicht mehr mit Sonne, dem Computer bei New Wave, verbunden. Wenn die Mikrowellensender den Todesbefehl sendeten, würde es den Befehl nicht empfangen - und leben.
Es war zum Meister seiner Physiologie geworden, indem es sich zur unkomplizierten Essenz stofflicher Existenz reduziert hatte.
Auch die Bewußtseinsinhalte waren zu einem verschmolzen. Dem Bewußtsein, das jetzt in der Dunkelheit hauste, fehlte ebenso eine komplexe Form wie dem amorphen, gallertartigen Körper, den es bewohnte.
Es hatte seine Erinnerung aufgegeben, weil Erinnerungen zwangsläufig Ereignissen und Beziehungen mit Konsequenzen galten, und Konsequenzen - gut oder schlecht - bedeuteten, daß man für seine Taten verantwortlich war. Aber die Flucht vor der Verantwortung hatte das Wesen ja überhaupt erst zur Regression getrieben. Schmerzen waren auch ein Grund, die Erinnerungen abzustreifen - die Schmerzen, sich an alles zu erinnern, was man verloren hatte.
Und es hatte ebenso die Fähigkeit aufgegeben, an die Zukunft zu denken, zu planen und zu träumen.
Jetzt hatte es keine Vergangenheit mehr, an die es sich erinnerte, und die Vorstellung einer Zukunft lag außerhalb seiner Reichweite. Es lebte nur für den Augenblick, dachte nicht, fühlte nichts, kümmerte sich um nichts.
Es hatte nur ein Bedürfnis. Zu überleben.
Und zum Überleben brauchte es nur eines. Nahrung.
29
Die Frühstücksteller waren vom Tisch abgeräumt worden, während sich Sam im Haus der Coltranes aufgehalten und Monster bekämpft hatte, die offenbar teils Mensch, teils Computer und teils Zombies waren - und möglicherweise, wer konnte das sagen, teils Toasterheizung. Nachdem Sam verbunden war, versammelte sich Chrissie wieder mit ihm und Tessa und Harry um den Küchentisch, um sich anzuhören, wie sie ihr weiteres Vorgehen planten.
»Das größte Problem unserer Zeit«, sagte Sam, »ist, wie kann man den technischen Fortschritt beschleunigen, wie kann man ihn dazu benutzen, die Lebensqualität zu verbessern, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Können wir den Computer dazu benutzen, unsere Welt neu zu planen, unser Leben neu zu gestalten, ohne ihn eines Tages blind anzubeten?« Er zwinkerte Tessa zu und sagte: »Das ist keine dumme Frage.«
Tessa runzelte die Stirn. »Das habe ich auch nicht gesagt. Manchmal vertrauen wir den Maschinen blind, wir neigen dazu, alles, was uns der Computer sagt, als Evangelismus zu betrachten... «
»Den alten Leitspruch zu vergessen«, warf Harry ein, »der da lautet >Müll rein, Müll raus<.«
»Genau«, stimmte Tessa zu. »Wenn wir Daten und Analysen von Computern bekommen, tun wir manchmal so, als wären die Maschinen unfehlbar. Und das ist gefährlich, denn Computer können von einem Wahnsinnigen erdacht, entwickelt und angewendet werden, vielleicht nicht so leicht wie von einem gütigen Genie, aber ebenso wirksam.«
Sam sagte: »Aber die Menschen haben die Neigung - nein, sogar den Wunsch, den tiefempfundenen Willen -, von Maschinen abhängig zu sein.«
»Ja«, sagte Harry, »das liegt an unserer verdammten Veranlagung, Verantwortung, soweit es geht, von uns zu weisen. Der feige Wunsch, sich der Verantwortung zu entziehen, ist in unseren Genen gespeichert, das schwöre ich, und wir bringen es in dieser Welt nur zu etwas, wenn wir unsere natürliche Neigung, vollkommen verantwortungslos zu sein, ständig bekämpfen. Manchmal frage ich mich, ob wir das vom Teufel bekommen haben, als Eva auf die Schlange hörte und den Apfel aß - diese Abneigung gegenüber Verantwortung. Das ist die Ursache der meisten Übel.«
Chrissie stellte fest, daß dieses Thema Harry aufbrachte. Er richtete sich mit seinem guten Arm und etwas Unterstützung durch das halb gesunde Bein höher in seinem Rollstuhl auf. Sein bisher blasses Gesicht bekam Farbe. Er ballte eine Hand zur Faust und sah sie durchdringend an, als hielte er etwas Kostbares in diesem festen Griff, als hielte er seinen Gedanken dort fest und wollte ihn nicht loslassen, bevor er ihn in allen Einzelheiten durchdacht hatte.
Er sagte: »Die Menschen stehlen und töten und lügen und betrügen, weil sie keine Verantwortung füreinander empfinden. Politiker wollen Macht, und sie wollen Ruhm, wenn ihre Politik erfolgreich war, aber sie übernehmen selten die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Die Welt ist voller Menschen, die einem sagen wollen, wie man sein Leben zu leben hat, wie man sich den Himmel auf Erden schafft, aber wenn sich ihre Vorstellungen als schlecht erweisen, wenn es mit einem Dachau oder einem Gulag oder Massakern wie nach unserem Rückzug aus Südostasien endet, drehen sie sich um, sehen weg und tun so, als wären sie nicht für die Gemetzel verantwortlich.«
Er zitterte, und Chrissie zitterte auch, obwohl sie nicht sicher war, daß sie alles verstanden hatte, was er gesagt hatte.
»Mein Gott«, fuhr er fort, »wenn ich einmal darüber nachgedacht habe, dann habe ich tausendmal darüber nachgedacht, vielleicht zehntausendmal, und das wahrscheinlich nur wegen des Krieges.«
»Sie meinen Vietnam?« sagte Tessa.
Harry nickte. Er sah immer noch seine Faust an. »Wenn man im Krieg überleben wollte, mußte man jede Minute des Tages Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen, ohne zu zögern. Und man mußte auch für seine Kameraden verantwortlich sein, denn man konnte nicht alleine, auf sich gestellt, überleben. Das ist vielleicht das einzige Positive daran, im Krieg zu kämpfen - er klärt das Denken und macht einem bewußt, daß Verantwortungsgefühl die guten Menschen, von den verdammten unterscheidet. Ich bedaure den Krieg nicht, nicht einmal angesichts dessen, was mir dort zugestoßen ist. Ich habe diese große Lektion gelernt, habe gelernt, in allen Belangen verantwortungsbewußt zu sein, und ich empfinde immer noch Verantwortung den Menschen gegenüber, für die wir gekämpft haben, das werde ich immer, und wenn ich manchmal daran denke, wie wir sie im Stich gelassen haben, an die Schlachtfelder, die Massengräber, dann liege ich nachts wach und weine, weil sie von mir abhängig waren; und in dem Maß, wie ich an dem Geschehen beteiligt war, habe ich sie im Stich gelassen und bin dafür verantwortlich.«
Sie schwiegen alle.
Chrissie verspürte einen eigentümlichen Druck in der Brust, dasselbe Gefühl, das sie immer in der Schule gehabt hatte, wenn ein Lehrer - irgendein Lehrer, irgendein Thema
- über etwas redete, das ihr bislang unbekannt gewesen war und das sie so sehr beeindruckte, daß es ihren Eindruck von der Welt veränderte. Es kam nicht oft vor, aber es war stets ein furchteinflößendes und wunderbares Gefühl. Sie verspürte es jetzt auch, nach Harrys Worten, aber das Gefühl war zehnmal oder hundertmal stärker, als es jemals gewesen war, wenn ihr neues Wissen in Geographie oder Mathematik oder Naturwissenschaften vermittelt worden war.
Tessa sagte: »Harry, ich finde in diesem Fall ist Ihr Verantwortungsgefühl übertrieben.«
Er sah endlich von seiner Faust auf. »Nein. Niemals. Das Gefühl der Verantwortung für andere kann niemals übertrieben sein.« Er lächelte sie an. »Aber ich kenne Sie gerade gut genug, um zu vermuten, daß Ihnen das längst klar ist, Tessa, ob es Ihnen bewußt ist oder nicht.« Er sah Sam an und sagte: »Manche, die aus dem Krieg heimgekehrt sind, haben überhaupt nichts Gutes darin gesehen. Wenn ich sie treffe, vermute ich immer, daß sie die Lektion nie gelernt haben und gehe ihnen aus dem Weg - obwohl das wahrscheinlich unfair ist. Aber ich kann nichts dafür. Wenn ich dagegen einen Mann treffe, der seine Lektion im Krieg gelernt hat, vertraue ich ihm von ganzen Herzen. Ich würde ihm von ganzer Seele vertrauen, und das scheint in unserem Fall ja zu sein, was sie uns nehmen wollen. Sie werden uns hier herausbringen, Sam.« Er machte die Faust auf. »Daran zweifle ich nicht im geringsten.«