Er drehte die Hand herum. Die Unterseiten der Finger und der Handfläche glichen der Oberfläche einer Kathodenröhre. Daten leuchteten darauf, grüne Buchstaben auf einem dunklen, glasartigen Hintergrund. Als er die Worte und Zahlen auf seiner Hand mit denen auf dem VDT des Autos verglich, sah er, daß sie identisch waren. Die Informationen auf dem VDT wechselten, gleichzeitig mit denen auf der Hand.
Plötzlich wurde ihm klar, daß Regression zur Bestie nicht sein einziger Ausweg war und er in die Welt elektronischer Gedanken und magnetischer Erinnerungen eindringen konnte, in eine Welt des Wissens ohne fleischliche Begierden, des Denkens, ohne zu fühlen. Dies war keine Einsicht rein - oder nur vordringlich - intellektueller Natur. Es war auch kein rein instinktives Verhalten. Er wußte auf einer profunderen Ebene als Intellekt oder Instinkt, daß er sich selbst auf eine Weise neu erschaffen konnte, die noch grundlegender war als das, was Shaddack mit ihm gemacht hatte.
Er senkte die Hand vom geneigten Bildschirm zur Datenverarbeitungseinheit in der Konsole zwischen den Sitzen. Er ließ seine Hand so mühelos wie durch das Glas durch die Deckplatte und Tastatur ins Innere der Maschine eindringen.
Er war ektoplasmatisch und konnte wie ein Geist durch Wände gehen.
Kälte schlich seinen Arm entlang.
Die Daten auf dem Bildschirm wurden von einem rästel-haften Lichtmuster abgelöst.
Er lehnte sich im Sitz zurück.
Die Kälte hatte seine Schulter erreicht. Sie strömte in seinen Hals.
Er seufzte.
Er spürte, wie etwas mit seinen Augen geschah. Er war nicht sicher, was es war. Er hätte in den Rückspiegel sehen können. Aber so wichtig war es ihm nicht. Er beschloß, die Augen zuzumachen und sie zu dem werden zu lassen, was als Teil seiner zweiten und vollständigeren Verwandlung nötig war.
Jetzt war die Kälte in seinem Gesicht. Sein Mund war taub.
Noch etwas ging in seinem Kopf vor sich. Er wurde sich der inneren Geographie seiner Gehirnwindungen und Synapsen bewußt, so wie der Außenwelt.
Sein Körper war nicht mehr so sehr Teil von ihm wie früher; er spürte weniger mit ihm, als wären seine Nerven weitgehend durchgetrennt worden; er konnte nicht einmal sagen, ob es warm oder kalt in dem Auto war, wenn er sich nicht darauf konzentrierte, die Daten anzuhäufen. Schließlich war sein Körper nur ein Maschinengehäuse und ein Platz für Sensoren, ausschließlich dazu entworfen, seinem inneren Selbst zu dienen und es zu schützen, seinem rechnenden Verstand.
Die Kälte war in seinem Kopf.
Ihm war, als würden Dutzende, dann Hunderte, schließlich Zehntausende eiskalter Spinnen über sein Gehirn krabbeln und sich hineinfressen.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, daß Oz für Dorothy ein lebender Alptraum gewesen war und sie mit aller Verzweiflung nach Kansas zurückwollte.
Auch Alice hatte nur Wahnsinn und Entsetzen im Kaninchenloch oder hinter dem Spiegel gefunden...
Eine Million kalte Spinnen.
In seinem Kopf.
Eine Milliarde.
Kalt, kalt.
Wuselnd.
33
Loman, der immer noch durch Moonlight Cove fuhr und nach Shaddack suchte, sah zwei Regressive über die Straße hasten.
Er war in der Paddock Lane, am südlichen Stadtrand, wo die Grundstücke so groß waren, daß sich die Leute Pferde halten konnten. Ranchhäuser lagen auf beiden Seiten, daneben oder dahinter kleine private Stallungen. Die Häuser standen etwas abseits der Straße hinter schmiedeeisernen Gittern oder weißen Holzzäunen, hinter grünen und üppigen Rasenflächen.
Die beiden Regressiven brachen aus einer dichten Reihe ausgewachsener, einen Meter hoher Azaleen hervor, die um diese Zeit zwar noch buschig waren, aber keine Blüten mehr trugen. Sie sprangen auf allen vieren über die Straße, hüpften in den Graben, brachen durch eine Hecke und verschwanden dahinter.
Obwohl auf beiden Seiten der Paddock Lane gewaltige Pinien standen, deren Schatten den ohnedies düsteren Tag noch dunkler machten, war Loman sicher, was er gesehen hatte. Sie waren Traumgeschöpfen nachempfunden gewesen, nicht Tieren der wirklichen Welt: teils Wolf, vielleicht, teils Katze, teils Reptil. Sie waren schnell und machten einen kräftigen Eindruck. Einer hatte den Kopf zu ihm gedreht, seine Augen glühten im Schatten rosarot wie die einer Ratte.
Er bremste, hielt aber nicht an. Es lag ihm nichts mehr daran, Regressive zu identifizieren und auszuschalten. Zunächst einmal hatte er sie bereits zu seiner Zufriedenheit identifiziert: alle Verwandelten. Er wußte, er konnte sie nur aufhalten, indem er Shaddack aufhielte. Er war auf eine weitaus größere Beute aus.
Aber es bestürzte ihn, sie dreist im hellen Tageslicht auf der Pirsch zu sehen, um halb drei Uhr nachmittags. Bislang waren sie heimlichtuerische Geschöpfe der Nacht gewesen, die die Schande ihrer Regression verbargen, indem sie nur nach Sonnenuntergang in ihr verändertes Dasein überwechselten. Da sie nun bereit waren, vor Einbruch der Nacht hinauszuziehen, zerfiel das Projekt Moonhawk schneller ins Chaos, als er erwartet hatte. Moonlight Cove taumelte nicht mehr nur am Rand der Hölle dahin, es war bereits über die Grenze gekippt und raste in den Abgrund hinunter.
34
Sie waren wieder in Harrys Schlafzimmer im dritten Stock, wo sie die vergangenen eineinhalb Stunden verbracht, sich die Köpfe zerbrochen und hektisch ihre Möglichkeiten dis -kutiert hatten. Keine Lampen waren eingeschaltet. Wäßriges Nachmittagslicht überflutete das Zimmer und trug seinen Teil zur ernsten Stimmung bei.
»Wir waren uns also einig, daß es zwei Möglichkeiten gibt, eine Nachricht aus der Stadt hinauszuschicken«, sagte Sam.
»Aber in jedem Fall«, sagte Tessa unbehaglich, »müssen Sie hinaus und eine immense Strecke zurücklegen, um dorthin zu gelangen, wo Sie hin wollen.«
Sam zuckte die Achseln.
Tessa und Chrissie hatten die Schuhe ausgezogen und saßen auf dem Bett, sie lehnten mit den Rücken am Kopfteil. Das Mädchen hatte offenbar die Absicht, in Tessas Nähe zu bleiben; sie schien sich so auf sie eingestellt zu haben, wie sich ein frisch aus dem Ei geschlüpftes Küken auf die nächstbeste erwachsene Henne einstimmt, ob sie nun wirklich seine Mutter ist oder nicht.
Tessa sagte: »Das wird nicht so einfach sein wie zwei Türen weiter zum Haus der Coltranes zu schleichen. Nicht bei Tage.«
»Glauben Sie, ich sollte warten, bis es dunkel wird?« fragte Sam.
»Ja. Gegen Spätnachmittag wird auch der Nebel dichter werden.«
Es war ihr ernst damit, obwohl sie sich wegen der Verzögerung Sorgen machte. In der Zeit, während sie warteten, würden noch mehr Menschen verwandelt werden. Moon-light Cove würde zu einer zunehmend fremden, gefährlichen Umgebung voller Überraschungen werden.
Sam wandte sich an Harry und sagte: »Wann wird es dunkel?«
Harry saß im Rollstuhl. Moose war zu seinem Herrchen zurückgekehrt und hatte den Kopf unter der Stuhllehne durchgeschoben und auf Harrys Schoß gelegt; er war damit zufrieden, lange Zeit in dieser unbequemen Haltung zu verweilen, wenn er nur ab und zu einmal gekrault oder gestreichelt wurde oder ein liebes Wort zu hören bekam.
Harry sagte: »Um diese Zeit beginnt die Dämmerung vor achtzehn Uhr.«
Sam saß am Teleskop, aber momentan benützte er es nicht. Vor einigen Augenblicken hatte er die Straßen abgesucht und berichtet, daß er mehr Aktivitäten denn je sah -jede Menge Patrouillen in Autos oder zu Fuß. Da immer weniger Menschen in Moonlight Cove unverwandelt blieben, wurden die Verschwörer, die hinter Moonhawk steckten, immer dreister mit ihren Polizeiaktionen und waren nicht mehr so besorgt wie früher, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Sam sah auf die Uhr und sagte: »Ich kann nicht sagen, daß mir die Vorstellung gefällt, drei Stunden oder mehr zu vergeuden. Je früher wir unsere Nachricht hinausbringen, desto mehr Menschen retten wir vor... was immer ihnen angetan wird.«