»Aber wenn Sie erwischt werden, weil Sie nicht bis Einbruch der Dunkelheit gewartet haben«, sagte Tessa, »sind die Chancen, überhaupt jemanden zu retten, deutlich geringer.«
»Die Dame hat recht«, sagte Harry.
»Sehr sogar«, sagte Chrissie. »Daß sie keine Außerirdischen sind, bedeutet noch lange nicht, daß man leichter mit ihnen fertig werden kann.«
Da man selbst mit den funktionierenden Telefonen nur genehmigte Nummern innerhalb der Stadt anwählen konnte, hatten sie diese Hoffnung aufgegeben. Aber Sam war klargeworden, daß jeder PC, der per Modem mit dem Supercomputer bei New Wave verbunden war - Harry hatte gs-sagt, sie nannten ihn Sonne -, ein Kommunikationsmittel aus der Stadt hinaus bilden konnte, einen elektronischen Highway, auf dem sie die derzeitigen Einschränkungen des Telefonnetzes und die Straßensperren umgehen konnten.
Sam hatte gestern nacht, als er das VDT im Streifenwagen benutzte, feststellen können, daß Sonne in direktem Kontakt mit einer Vielzahl von anderen Computern stand - einschließlich mehrerer Datenspeicher des FBI, sowohl welche mit allgemeinem Zugang wie auch solche, die eigentlich nur FBI-Agenten vorbehalten sein sollten. Wenn er sich an ein VDT setzen, mit Sonne Verbindung aufnehmen und durch Sonne in den FBI-Computer gelangen könnte, könnte er einen Hilferuf absetzen, der auf dem Bildschirm des Bureau erscheinen und schwarz auf wsiß aus dem Laserdrucker in dem Büro kommen würde.
Sie gingen selbstverständlich davon aus, daß die Einschränkungen der Kontakte nach draußen, die auf alle Telefonleitungen in der Stadt zutrafen, nicht auch für die Verbindungen galten, die Sonne mit der Außenwelt hielt. Wenn Sonnes Kontakte aus Moonlight Cove hinaus ebenfalls unterbrochen wären, dann hätten sie überhaupt keine Hoffnung mehr.
Sam scheute sich verständlicherweise davor, in Häuser zu gehen, die von Mitarbeitern von New Wave bewohnt wurden, weil er Angst hatte, er könnte noch mehr Menschen wie den Coltranes begegnen. Damit blieben nur zwei Möglichkeiten, an einen PC heranzukommen, der mit Sonne verbunden werden konnte.
Als erstes konnte er natürlich versuchen, in einen Streifenwagen zu gelangen und eines ihrer mobilen Terminals zu benützen, so wie gestern abend. Aber sie waren jetzt über seine Anwesenheit im klaren, und er würde sich nicht mehr so leicht an einen unbemannten Streifenwagen heranschleichen können. Zudem war es whrscheinlich, daß sämtliche Streifenwagen in Benutzung sein würden, da die Polizei immer dringender nach ihm und zweifellos auch nach Tessa suchte. Und selbst wenn ein Streifenwagen hinter dem Rathaus parkte, würde dort momentan wahrscheinlich wesentlich mehr Aktivität herrschen als bei seinem letzten Besuch.
Zweitens, sie könnten die Computer der High School am Roshmore Way benützen. New Wave hatte sie nicht aus edler Sorge um die Ausbildungsqualität der hiesigen Schüler gespendet, sondern als weiteres Mittel, die Gemeinde an sich zu binden. Sam war der Meinung, der Tessa zustimmte, daß die Terminals der Schule wahrscheinlich mit Sonne verbunden werden konnten.
Aber Moonlight Cove Central, wie die Kombination von Junior und Senior High School genannt wurde, befand sich an der Westseite des Roshmore Way, zwei Blocks westlich und einen ganzen Block südlich von Harrys Haus. Unter normalen Umständen wäre das ein angenehmer Spazier-gang von fünf Minuten gewesen. Aber da die Straßen unter Beobachtung standen und jedes Haus ein potentieller, von Feinden bemannter Wachturm war, würde es ebenso schwierig sein, die Schule unbemerkt zu erreichen, wie ein Minenfeld zu überqueren.
»Außerdem unterrichten sie noch an der Schule. Sie können nicht einfach hinein gehen und einen Computer benützen.«
»Besonders«, sagte Tessa, »da man sich ausmalen kann, daß die Lehrer zu den zuerst Verwandelten gehören.«
»Wann ist der Unterricht zu Ende?« fragte Sam.
»Nun, an der Thomas Jefferson dürfen wir um drei gehen, aber an der Central unterrichten sie noch eine halbe Stunde länger.«
»Halb vier«, sagte Sam.
Harry sah auf die Uhr und sagte: »Noch siebenundvierzig Minuten. Aber selbst dann wird es noch Aktivitäten nach Schulschluß dort geben, oder nicht?«
»Klar«, sagte Chrissie. »Orchester, möglicherweise Footballtraining, ein paar Arbeitsgemeinschaften, die sich während der regulären Unterrichtszeit nicht treffen können.«
»Um wieviel Uhr dürfte alles vorbei sein?«
»Ich weiß, daß das Orchester von Viertel vor vier bis Viertel vor fünf übt«, sagte Chrissie, »weil ich mit einem Mädchen befreundet bin, das ein Jahr älter ist als ich und im Orchester spielt. Ich spiele Klarinette. Ich möchte nächstes Jahr auch im Orchester spielen. Wenn es eine Kapelle gibt. Wenn es ein nächstes Jahr gibt.«
»Also sagen wir... um fünf Uhr ist die Schule verlassen.«
»Das Footballtraining dauert länger.«
»Trainieren sie heute, im strömenden Regen?«
»Ich denke nicht.«
»Wenn Sie bis fünf oder halb sechs warten«, sagte Tessa, »dann können Sie auch noch ein klein wenig länger warten und nach Einbruch der Dunkelheit hingehen.«
Sam nickte. »Stimmt.«
»Sam, Sie vergessen etwas«, sagte Harry.
»Was?«
»Kurz nachdem Sie weg sind, vielleicht schon Punkt sechs, werden sie hierherkommen, um mich zu verwandeln.«
»Mein Gott, das stimmt!« sagte Sam.
Moose hob den Kopf vom Schoß seines Herrn und zog ihn unter der Armlehne hervor. Er saß aufrecht da und hatte die schwarzen Ohren gespitzt, als hätte er genau verstanden und wartete bereits auf das Läuten der Klingel oder ein Klopfen unten an der Tür.
»Ich bin auch der Meinung, daß Sie bis Einbruch der Dunkelheit warten sollten, bevor Sie gehen, um eine bessere Chance zu haben«, sagte Harry, »aber dann müssen Sie Tes-sa und Chrissie mitnehmen. Es wäre nicht sicher, sie hier zu lassen.«
»Wir müssen Sie auch mitnehmen«, sagte Chrissie sofort. »Sie und Moose. Wir wissen nicht, ob sie auch Hunde verwandeln, aber wir müssen Moose trotzdem zur Sicherheit mitnehmen. Wir wollen uns doch keine Sorgen machen müssen, daß er in eine Maschine oder sonstwas verwandelt wird.«
Moose wuffte.
»Können wir davon ausgehen, daß er nicht bellt?« fragte Chrissie. »Wir wollen schließlich nicht, daß er im entscheidenden Augenblick etwas anbellt. Ich denke, wir sollten ihm einen Streifen Mullbinde um die Schnauze wickeln, in knebeln, was ziemlich böse ist und wahrscheinlich seine Gefühle verletzt, weil es bedeutet, daß wir ihm nicht vollkommen vertrauen, aber es würde ihm natürlich nicht körperlich wehtun, und ich bin sicher, wir könnten es später wiedergutmachen, vielleicht mit einem saftigen Steak oder...«
Sie stellte plötzlich fest, daß das Schweigen ihrer Gefährten ungewöhnlich ernst war, und verstummte ebenfalls. Sie sah Harry und Sam blinzelnd an, und dann stirnrunzelnd Tessa, die immer noch neben ihr auf dem Bett saß.
Seit sie nach oben gekommen waren, hatten sich dunkle Wolken am Himmel zusammengezogen, das Zimmer versank immer mehr in Schatten. Aber in diesem Augenblick konnte Tessa Harry Talbots Gesicht fast zu deutlich in der grauen Düsternis sehen. Sie merkte, wie sehr er sich bemühte, seine Angst zu verbergen, was ihm weitgehend gelang, er brachte sogar ein Lächeln und einen unbekümmerten Tonfall zustande, der lediglich von seinen ausdrucksvollen Augen Lügen gestraft wurde.
Harry sagte zu Chrissie: »Ich kann nicht mit euch kommen, Liebes.«
»Oh«, sagte das Mädchen. Sie sah ihn wieder an, und ihr Blick glitt von ihm zum Rollstuhl, in dem er saß. »Aber Sie waren einmal bei uns in der Schule und haben eine Rede gehalten. Sie verlassen manchmal das Haus. Sie müssen einen Weg haben, wie Sie hinaus können.«
Harry lächelte. »Der Fahrstuhl geht hinunter in die Garage im Keller. Ich fahre nicht mehr, also ist kein Auto unten, und ich kann mühelos durch die Einfahrt zum Gehweg rollen.«