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Dienstag nachmittag um halb fünf hatte sie den Roman halb durch, obwohl sie am Ende jedes Kapitels aufhörte und in den Regen hinaussah. Sie mochte Regen. Sie mochte jedes Wetter, das Gott der Welt schenkte - Sturm, Hagel, Wind, Kälte, Hitze -, weil die Vielfalt und die Extreme der Schöpfung sie so wunderschön machten.

Während sie in den Regen sah, der vorhin von einem heftigen Guß zu einem Nieseln geworden war, inzwischen aber wieder heftiger denn je herunterprasselte, sah sie drei große, dunkle und völlig fantastische Geschöpfe unter den Bäumen am hinteren Rain des Grundstücks hervorkommen, etwa fünfzig Meter von dem Fenster entfernt, an dem sie saß. Sie blieben einen Moment stehen, während dünne Nebelstreifen um ihre Beine wehten, als wären sie Alptraummonster, die aus diesen Nebelschleiern entstanden waren und ebenso schnell wieder verschwinden konnten, wie sie gekommen waren. Aber dann liefen sie auf ihre Veranda zu.

Während sie rasch näher kamen, bestätigte sich Megs erster Eindruck von ihnen. Sie waren nicht von dieser Welt... es sei denn, Steinmonster hätten zum Leben erwachen und von den Mauern von Kathedralen herunterklettern können.

Sie wußte sofort, daß sie sich in den Anfängen eines wirklich schlimmen Schlages befinden mußte, denn sie hatte immer gefürchtet, daß ein solcher sie einmal dahinraffen würde. Aber sie war überrascht, daß es so anfing, mit diesen unheimlichen Halluzinationen.

Selbstverständlich konnte es nichts anderes sein - eine Halluzination, die dem Platzen einer zerebralen Ader vorausging, die bereits anschwellen und auf ihr Gehirn drücken mußte. Sie wartete auf ein schmerzhaftes explodierendes Gefühl im Kopf, wartete darauf, daß Gesicht und Körper nach links oder rechts zucken würden, je nachdem, welche Seite gelähmt sein würde.

Noch als das erste Ungeheuer durchs Fenster sprang, den Tisch mit Glasscherben überschüttete, den Weißwein umwarf, Meg vom Stuhl riß und mit Zähnen und Krallen auf sie stürzte, wunderte sie sich, wie ein Schlag so lebhafte, echt wirkende Halluzinationen erzeugen konnte, aber das Ausmaß der Schmerzen überraschte sie nicht. Sie hatte immer gewußt, daß der Tod schmerzhaft sein würde.

Dora Hankins, die Empfangsdame in der Hauptlobby von New Wave, war daran gewöhnt, daß Leute schon ab sechzehn Uhr dreißig nach Hause gingen. Offiziell endete die Arbeitszeit erst um fünf Uhr, aber viele arbeiteten noch zu Hause an ihrem eigenen PC weiter, daher drängte niemand auf strenge Einhaltung der achtstündigen Arbeitsperiode. Seit sie verwandelt worden waren, bestand ohnedies keine Veranlassung mehr für Vorschriften, da sie alle auf dasselbe Ziel hinarbeiteten, auf die Neue Welt, die kommen würde, und sie brauchten dazu nicht mehr Disziplin als ihre Angst vor Shaddack, und die hatten sie überreichlich.

Als um 16 Uhr 55 noch niemand durch die Lobby gekommen war, wurde Dora besorgt. Es war seltsam still in dem Gebäude, obwohl Hunderte Menschen in den Büros und Labors weiter hinten im Erdgeschoß und den beiden darüberliegenden Stockwerken arbeiteten. Tatsächlich schien die ganze Firma verlassen zu sein.

Um fünf Uhr hatte immer noch niemand Feierabend gemacht, und Dora beschloß, nach dem Grund dafür zu sehen. Sie verließ ihren Posten am Empfangstisch, ging zum Ende der großen Marmorlobby, durch eine Messingtür und in einen weniger prunkvollen Flur mit P VC-Boden. Auf beiden Seiten lagen Büros. Sie ging ins erste Zimmer links, wo acht Frauen als Sekretärinnen für die weniger wichtigen Abteilungsleiter arbeiteten, die keine Privatsekretärin hatten.

Die acht saßen an ihren VDTs. Im grellen Neonlicht hatte Dora keine Mühe zu sehen, wie einheitlich Fleisch und Maschine miteinander verschmolzen waren.

Angst war die einzige Empfindung, die Dora seit Wochen hatte. Sie hatte geglaubt, sie in allen Farben und Tönen zu kennen. Aber jetzt kam sie mit noch größerer Vehemenz, dunkler und allumfassender als alles, was sie bisher erlebt hatte, über sie.

Eine glitzernde Sonde schnellte aus der Wand rechts von Dora. Sie war eindeutig metallisch, dennoch schien so etwas wie gelblicher Schleim von ihr zu tropfen. Das Ding schoß direkt auf eine der Sekretärinnen zu und bohrte sich ohne Blutvergießen in ihren Hinterkopf. Eine weitere Sonde brach aus der Schädeldecke einer anderen Frau hervor, stieg wie eine Schlange zur Musik eines Schlangenbeschwörers in die Höhe, zögerte und schnellte dann mit unglaublicher Ge -schwindigkeit zur Decke, durchbohrte die Schalldämpfung, ohne sie zu beschädigen und verschwand in die oberen Räume.

Dora spürte, daß sich alle Computer und Mitarbeiter von New Wave irgendwie zu einer einzigen Einheit verbunden hatten, in die auch das Gebäude selbst zunehmend schneller einbezogen wurde. Sie wollte weglaufen, konnte sich aber nicht bewegen - vielleicht weil sie wußte, daß jeder Fluchtversuch vergeblich sein würde.

Einen Augenblick später wurde sie an das Netz angeschlossen.

Betsy Soldonna klebte sorgfältig ein Plakat an der Wand hinter dem Tresen der Stadtbibliothek von Moonlight Cove fest. Es war Teil der Faszinierende-Literatur-Woche, einer Kampagne, die Kinder dazu bringen sollte, mehr Literatur zu lesen.

Sie war Bibliotheksassistentin, aber dienstags, wenn Cora Danker, ihre Chefin, ihren freien Tag hatte, arbeitete Betsy allein. Sie mochte Cora, aber Betsy arbeitete auch gerne allem. Cora war redselig und füllte jede Minute mit Klatsch ihrer langweiligen Beobachtungen der Figuren und Handlungen ihrer Lieblingsfernsehsendungen. Betsy, die ein Leben lang bibliophil und von Büchern besessen gewesen war, hätte mit Freuden endlose Gespräche über das geführt, was sie las, aber Cora las, obwohl sie Bibliothekarin war, so gut wie nie.

Betsy riß den vierten Streifen Klebeband vom Spender und klebte die letzte Ecke des Plakats an die Wand. Sie trat einen Schritt zurück und bewunderte ihre Arbeit.

Sie hatte das Plakat selbst gemacht. Sie war stolz auf ihre bescheidene künstlerische Begabung. Die Zeichnung zeigte einen Jungen und ein Mädchen, die Bücher hielten und mit weit aufgerissenen Augen auf die Seiten vor ihnen sahen. Ihre Haare standen zu Berge. Die Brauen des Mädchens schienen über die Stirn hinausgehüpft zu sein, genau wie die Ohren des Jungen. Über ihnen befand sich der Schriftzug: BÜCHER SIND TRAGBARE JAHRMARKTSBUDEN VOLL NERVENKITZEL UND ÜBERRASCHUNGEN.

Sie hörte einen seltsamen Laut von den Bücherstapeln am anderen Ende der Bibliothek - ein Grunzen, ein ersticktes Husten, dann so etwas wie ein Fauchen. Als nächstes das unmißverständliche Geräusch einer Reihe von Büchern, die in der Ecke zu Boden fielen.

Außer Betsy befand sich nur noch Dale Foy in der Bibliothek, ein Rentner, der bis vor drei Jahren, als er fünfundsechzig geworden war, Kassierer in Lucky's Supermarkt gewesen war. Er war ständig auf der Suche nach Thriller-Autoren, von denen er noch nichts gelesen hatte, und beschwerte sich immerzu, daß keiner so gut war wie die alten Geschichtenerzähler, womit er eher John Buchan als Robert Louis Stevenson meinte.

Betsy hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, daß Mr. Foy einen Herzanfall in einem der Gänge gehabt hatte, daß sie ihn um Hilfe rufen gehört und mitbekommen hatte, wie er die Bücher zu Boden warf, als er sich an eines der Regale klammerte. Sie sah in Gedanken, wie er sich unter Schmerzen wand, keine Luft mehr bekam, sein Gesicht blau wurde und die Augen hervorquollen, blutiger Schaum über seine Lippen kam...

Jahrelanges Lesen hatte Betsys Fantasie bearbeitet, bis sie so scharf wie eine aus feinstem deutschem Stahl gemachte Rasierklinge geworden war.

Sie eilte um den Tresen und die Gänge entlang, wo sie in jeden der schmalen Flure sah, die von zweieinhalb Meter hohen Regalen gebildet wurden. »Mr. Foy? Mr. Foy, ist alles in Ordnung?«

Sie fand die heruntergefallenen Bücher im letzten Regal, aber keine Spur von Dale Foy. Sie wandte sich verwirrt wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war, und da stand Foy hinter ihr. Aber verändert. Und nicht einmal Bet-sys messerscharfe Fantasie hätte sich das Ding ausdenken können, zu dem Foy geworden war - oder das, was er im Begriff war ihr anzutun. Die nächsten paar Minuten waren so voller Überraschungen wie sämtliche Bücher, die sie jemals gelesen hatte, aber es gab kein Happy End.