Sie fühlte sich verwundbar und allein, als sie den heulenden Jägern den Rücken zudrehte und den Pfad zum südlichen Rand des Tals emporkletterte.
9
Am Fuß der Ocean Avenue schritt Tessa Lockland über den verlassenen Parkplatz zum öffentlichen Strand. Die nächtliche Brise vom Pazifik kam gerade auf, sanft aber kühl, und sie war froh, daß sie Hosen, einen Wollpullover und die Lederjacke anhatte.
Sie schritt über den weichen Sand zu den Schatten außerhalb des Lichtkreises der letzten Straßenlaterne, an einer am Strand wachsenden hohen Zypresse vorüber, die der Wind vom Meer so radikal geformt hatte, daß sie sie an eine Skulptur von Erte erinnerte, nur gekrümmte Linien und geschmolzene Formen. Auf dem feuchten Sand am Wasser, wo die Wellen Zentimeter von ihren Schuhspitzen entfernt ausrollten, sah Tessa nach Westen. Der Viertelmond reichte nicht aus, das weite, wogende Meer zu erhellen; sie konnte lediglich die ersten drei Reihen der flachen, schaumgekrönten Wellen sehen, die aus der Dunkelheit auf sie zubrandeten.
Sie versuchte, sich ihre Schwester vorzustellen, wie sie an diesem einsamen Strand stand, dreißig oder vierzig Valium mit Diet Coke hinunterspülte und sich dann nackt auszog und ins kalte Meer sprang. Nein. Nicht Janice.
Von der wachsenden Überzeugung erfüllt, daß die Behörden in Moonlight Cove entweder untaugliche Narren oder Lügner waren, schritt Tessa an der Krümmung des Strands entlang nach Süden. Sie betrachtete im perlmuttartigen Licht des verkümmerten Mondes den Sand, die verstreuten Zypressen weiter hinten am Strand und die von der Zeit abgetragenen Felsformationen. Sie suchte nicht nach greifbaren Spuren, die ihr verraten könnten, was Janice zugestoßen war; die waren in den vergangenen Wochen nur von Gezeiten und Winden verwischt worden. Sie hoffte statt dessen, die Landschaft selbst und die Elemente der Nacht - Dunkelheit, kühler Wind, Arabesken blassen, langsam dichter werdenden Nebels - würden sie inspirieren, eine Theorie darüber zu entwickeln, was Janice wirklich zugestoßen war, und wie sie anfangen könnte, diese Theorie zu beweisen.
Sie war Filmemacherin, die sich auf verschiedene Arten von Industrie- und Dokumentarfilmen spezialisiert hatte. Wenn sie Zweifel an Bedeutung oder Zweck eines Projektes hatte, konnte es sie, wie sie schon häufig festgestellt hatte, zu erzählerischen und thematischen Annäherungen an ein Thema inspirieren, wenn sie sich ganz in die bestimmte geographische Gegend versenkte. Wenn sie sich im Anfangsstadium eines neuen Reisefilms befand, verbrachte sie häufig ein paar Tage nur damit, ziellos durch die Straßen einer Stadt, wie Singapur oder Hongkong oder Rio, zu schlendern und Einzelheiten in sich aufzunehmen, was produktiver war, als stundenlang Hintergrundinformationen nachzulesen oder sich Gedanken zu machen, obwohl Lesen und Nachdenken selbstverständlich auch dazugehörten.
Sie war kaum sechzig Meter am Strand entlanggelaufen, als sie einen schrillen, unheimlichen Schrei hörte und stehenblieb. Das Geräusch war fern, schwoll an und senkte sich, schwoll an und senkte sich, verstummte.
Sie fragte sich, was sie gehört hatte, denn der seltsame Ruf machte sie kälter als die kühle Oktoberluft. Es war teilweise ein hundeähnliches Heulen gewesen, aber sie war sicher, daß es nicht von einem Hund stammte. Obwohl es auch etwas vom katzenhaften Maunzen und Wimmern gehabt hatte, war sie sicher, daß es auch nicht von einer Katze stammte; keine Hauskatze kpnnte so laut schreien, und soweit sie wußte, streiften keine Wildkatzen durch die Berge an der Küste, aber ganz bestimmt nicht in der Nähe einer Stadt wie Moonlight Cove.
Gerade als sie sich wieder in Bewegung setzen wollte, hallte derselbe klagende Schrei durch die Nacht, und jetzt war sie ziemlich sicher, daß er von der Klippe weiter südlich heruntertönte, die sich über den Strand erhob, wo die Lichter der meerwärts erbauten Häuser nicht so dicht waren wie in der Mitte der Bucht. Dieses Mal endete das Heulen mit einem abgehackteren, lehligeren Laut, der von einem großen Hund hätte stammen können, aber sie war immer noch davon überzeugt, daß er von einem anderen Geschöpf stammen mußte. Jemand, der an der Küste lebte, mußte sich ein exotisches Tier als Haustier halten: möglicherweise einen Wolf oder eine große Gebirgskatze, die nicht an der nördlichen Küste beheimatet war.
Diese Erklärung befriedigte sie freilich nicht völlig, denn der Schrei hatte etwas eigentümlich Vertrautes an sich gehabt, das sie nicht greifen konnte, eine Eigenheit, die nichts mit einem Wolf oder einer Gebirgskatze zu tun hatte. Sie wartete auf einen weiteren Schrei, aber es kam keiner mehr.
Die Dunkelheit um sie herum hatte zugenommen. Der Nebel ballte sich zusammen, eine dunkle Wolke schob sich halb vor die Mondsichel.
Sie entschied, daß sie die Einzelheiten der Landschaft am Morgen besser in sich aufnehmen könnte, und drehte sich wieder zu den nebelverschleierten Laternen am Ende der Ocean Avenue um. Sie merkte nicht, daß sie so schnell ging - beinahe rannte -, bis sie das Ufer hinter sich gelassen, den Parkplatz überquert und den ersten Block der Ocean Avenue passiert hatte, und da bemerkte sie ihre Hast nur, weil ihr plötzlich klar wurde, wie keuchend sie atmete.
10
Thomas Shaddack schwebte in vollkommener Schwärze, die weder warm noch kalt war, in der er schwerelos zu sein schien, er keinerlei Empfindungen mehr auf der Haut spürte, in der er ohne Gliedmaßen, Muskeln oder Knochen zu sein und überhaupt keinerlei stoffliche Substanz zu haben schien. Ein zäher Gedankenfaden verband ihn mit seinem körperlichen Selbst, und er war sich in den entferntesten Ecken seines Verstandes immer noch bewußt, daß er ein Mensch war - ein Hüne von einem Mann, einen Meter neunzig groß, achtundsiebzig Kilo schwer, schlacksig und knochig, mit zu schmalem Gesicht, hoher Stirn und braunen Augen, die so hell waren, daß sie fast Gelb wirkten.
Er war sich auch vage bewußt, daß er nackt war und in einer Kammer zum Entzug von Sinneswahrnehmungen schwebte, die sich auf dem neuesten Stand der Technik befand und ungefähr wie eine altmodische eiserne Lunge aussah, aber viermal so groß. Die einzige schwache Glühbirne war ausgeschaltet, kein Licht drang durch die Hülle des Tanks. Die Flüssigkeit, in der Shaddack schwebte, war etwa sechzig Zentimeter tief, eine zehnprozentige Lösung von Magnesiumsulfat in Wasser, des optimalen Auftriebs wegen. Die - wie jedes Element dieser Umgebung - von einem Computer überwachte Temperatur des Wassers schwankte zwischen vierunddreißig Grad Celsius, der Temperatur, bei der ein treibender Körper am wenigsten von der Schwerkraft beeinflußt wird, und siebenunddreißig Grad Celsius, bei denen der Wärmeunterschied zwischen der menschlichen Körpertemperatur und der Flüssigkeit vernachlässigbar ist.
Er litt nicht an Klaustrophobie. Eine oder zwei Minuten, nachdem er sich in die Kammer begeben und die Klappe geschlossen hatte, war das Gefühl, beengt zu sein, völlig verschwunden.
Ohne Sinneswahrnehmungen - kein Sehen, kein Hören, wenig oder gar kein Schmecken, keinerlei Geruchsstimulationen, kein Tastsinn, kein Gefühl für Gewicht oder Raum oder Zeit - ließ Shaddack seinen Verstand frei wandern; ohne die Behinderungen des Fleisches schwang er sich zu neuen Höhepunkten der Einsicht auf und erforschte Vorstellungskonzepte, die ansonsten zu komplex gewesen wären.
Er war auch ohne Unterstützung durch den Entzug von Sinneswahrnehmungen ein Genie. Das hatte das Time Magazin geschrieben, also mußte es stimmen. Er hatte New Wave Mikrotechnologie von einer ums Überleben kämpfenden Firma mit einem Startkapital von zwanzigtausend Dollar zu einem Unternehmen mit dreihundert Millionen Jahresumsatz gemacht, welches hochentwickelte Mikrotechnologie erforschte, plante und entwickelte.
Momentan unternahm Shaddack allerdings keinen Versuch, sich auf anstehende Probleme zu konzentrieren. Er benützte den Tank nur zur Erholung, um eine bestimmte Vision herbeizuführen, die ihn immer wieder in ihren Bann zog und erregte.