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Als sie über die Schulter sah, konnte sie erkennen, daß der Suchscheinwerfer immer noch auf die Häuserfronten und Vorgärten der Südseite der Straße gerichtet war. Aber auch die Scheinwerfer des Autos strahlten zur Seite, worüber man sich Gedanken machen mußte, und die würden in wenigen Augenblicken den Rasen hier erhellen.

Sie krabbelte halb und kroch halb auf dem Bauch, womit sie schnell vorankam, aber zweifellos jede Menge Schnecken und Regenwürmer zerdrückte, die herausgekommen waren und durch das nasse Gras krochen, aber daran dachte sie lieber nicht. Sie kam zu einem Betonweg dicht am Haus - und stellte fest, daß Sam verschwunden war.

Sie blieb auf Händen und Knien stehen und sah nach rechts und links.

Tessa erschien neben ihr. »Kellertreppe, Liebes. Beeil dich!«

Sie kroch weiter und entdeckte eine Außentreppe aus Beton, die zur Kellertür hinunterführte. Sam kauerte unten, wo gesammeltes Regenwasser leise gurgelnd in einen Gully vor der Tür abfloß. Chrissie gesellte sich zu ihm in die Zuflucht, und Tessa folgte ihnen. Etwa vier Sekunden später glitt der Suchscheinwerfer über die Hausfassade und spielte einen Augenblick Zentimeter über ihren Köpfen auf dem Betonrand der Treppe.

Sie kauerten eine Minute, nachdem der Scheinwerfer verschwunden war, noch reglos und stumm beisammen. Chris -sie war sicher, daß etwas in dem Haus sie gehört hatte, daß die Tür hinter Sams Rücken jeden Augenblick aufgehen und etwas sie anspringen würde, ein Wesen, das halb Werwolf und halb Computer war und fauchte und piepste, Zähne und Programmiertasten im Mund, auf denen sinngemäß stand: »Um getötet zu werden, drücken Sie bitte ENTER und gehen weiter.«

Sie war sehr erleichtert, als Sam schließlich flüsterte: »Weiter.«

Sie gingen wieder über den Rasen zum Bergenwood Way. Diesesmal blieb die Straße glücklicherweise verlassen.

Wie Harry gesagt hatte, verlief ein gemauerter Abwasserkanal parallel zum Bergenwood. Laut Harry, der als Kind darin gespielt hatte, war der Kanal etwa neunzig Zentimeter breit und vielleicht einen Meter fünfzig tief. Legte man diese Abmessung zugrunde, mußten derzeit etwa dreißig Zentimeter Regenwasser darin fließen. Die Strömung war schnell und fast schwarz und lediglich anhand eines gelegentlichen dunklen Funkeins und Gluckerns von fließendem Wasser am Grund des schattigen Grabens zu erkennen.

Dieser Kanal bot eine weitaus unverdächtigere Route als die offene Straße. Sie gingen ein paar Meter bergauf, bis sie die eingemauerten Handgriffe aus Eisen fanden, die sie laut Harrys Versprechen alle paar hundert Meter entlang den offenen Teilen des Kanals finden würden. Sam kletterte als erster hinab, Chrissie als zweite, Tessa machte den Schluß.

Sam bückte sich, damit sein Kopf nicht über den Rand ragte, Tessa bückte sich nicht ganz so sehr. Aber Chrissie mußte sich überhaupt nicht bücken. Es hatte schon seine Vorteile, elf zu sein, besonders wenn man vor Werwölfen oder Robotern oder heißhungrigen Außerirdischen oder Nazis auf der Flucht war, und sie war in den vergangenen vierundzwanzig Stunden vor den ersten dreien auf der Flucht gewesen, aber glücklicherweise noch nicht vor Nazis, obwohl Gott allein wissen konnte, was noch alles passieren würde.

Das strömende Wasser um ihre Füße und Waden herum war kalt. Sie stellte überrascht fest, daß es ziemlich reißend war, obwohl es ihr nur bis an die Knie ging. Es zog und zerrte unablässig, als wäre es ein Lebewesen mit der bösen Absicht, sie umzuwerfen. Solange sie breitbeinig und abgestützt dastand, lief sie nicht Gefahr zu fallen, aber sie war nicht sicher, wie lange sie beim Gehen das Gleichgewicht halten könnte. Der Graben verlief steil abwärts. Nach mehreren Jahrzehnten Regen war der Steinboden glatt und schlüpfrig geworden. Aufgrund dieser Faktoren war der Graben fast schon so etwas wie eine Rutschbahn auf dem Jahrmarkt.

Wenn sie fiele, würde sie den ganzen Weg hinuntergespült werden, bis einen halben Block von der Klippe entfernt, wo der Kanal breiter wurde und senkrecht in den Boden hinab führte. Harry hatte gesagt, daß Balken direkt vor dem Wasserfall stünden und diesen in schmale Anschnitte unterteilten, aber sie dachte sich, wenn sie dorthin gespült würde und sich auf diese Balken verließe, würden sie entweder fehlen oder verrostet sein, so daß sie ungehindert bis auf den Grund fallen würde. Das System kam am Fuß der Klippe wieder heraus und führte noch ein Stück über den Strand, wo es seine Wasserladungen entweder in den Sand oder, bei Flut, ins Meer ergoß.

Sie hatte keine Mühe sich vorzustellen, wie sie hilflos zappelte und sich wand, an schmutzigem Wasser würgte und verzweifelt aber erfolglos nach den Steinwänden griff, um sich festzuhalten, um dann plötzlich viele Meter in die Tiefe zu stürzen, auf die Wände des Schachts aufzuschlagen, wenn er wieder vertikal wurde, die Knochen zu brechen, sich den Schädel zu zertrümmern, mit schrecklicher Wucht auf dem Boden auf...

Nun ja, sie hatte keine Mühe, sich das alles vorzustellen, aber plötzlich hielt sie es nicht mehr für sehr klug.

Glücklicherweise hatte Harry sie vor diesem Problem gewarnt, daher war Sam vorbereitet. Er hatte sich unter dem Jackett ein Seil um die Hüfte geschlungen, das er aus einem längst nicht mehr benützten Flaschenzug in Harrys Keller genommen hatte und jetzt aufrollte. Das Seil war zwar alt, aber Sam sagte, daß es immer noch hielt, und Chrissie hoffte, er hätte recht. Ein Ende hatte er um sich verknotet, bevor sie das Haus verlassen hatten, das andere schlang er jetzt um Chrissies Gürtel und band es schließlich um Tessas Taille, so daß etwa zwei Meter Spielraum zwischen allen blieb. Wenn einer von ihnen stürzte - nun, man konnte es getrost aussprechen, Chrissie war bei weitem die wahrscheinlichste Kandidatin zu stürzen und einem nassen und blutigen Tod entgegengespült zu werden -, konnten die anderen stehenbleiben, bis er wieder auf die Beine gekommen war.

So jedenfalls war der Plan.

Sicher verankert gingen sie den Kanal entlang. Sam und Tessa bückten sich, damit niemand in einem vorbeifahrenden Auto ihre Köpfe über dem Rand des Grabens sehen könnte, und Chrissie bückte sich auch ein wenig und hielt die Beine gespreizt, eine Art Trollgang, wie sie ihn schon gestern nacht im Tunnel unter der Wiese praktiziert hatte.

Sie hielt sich laut Sams Anweisung mit beiden Händen am Seil vor sich fest und zog es hoch, wenn sie nahe bei ihm war, damit sie nicht darüber stolperte, dann ließ sie es wieder los, wenn sie ein paar Schritte zurückfiel. Tessa hinter ihr machte es genauso; Chrissie spürte das sanfte Ziehen des Seils am Gürtel.

Sie näherten sich einer Öffnung, die einen halben Block entfernt war. An der Conquistador wurde der Graben zum unterirdischen Tunnel, und zwar nicht nur bis über die Kreuzung hinweg, sondern zwei volle Blocks lang; er kam erst an der Roshmore wieder zur Oberfläche.

Chrissie sah an Sam vorbei zum Tunneleingang, und ihr gefiel ganz und gar nicht, was sie da sah. Die Röhre war rund und betoniert, nicht gemauert. Sie war breiter als der rechteckige Graben und etwa einen Meter fünfzig im Durchmesser, zweifellos, damit Arbeiter leichter hineinklettern und saubermachen konnten, falls sie von Unrat verstopft wäre. Aber weder Form noch Größe des Tunnels machten ihr Unbehagen; es war die absolute Schwärze, bei der sich ihre Nackenhärchen aufstellten, denn es war dunkler dort als selbst die Essenz der Nacht auf dem Grund des Abwasserkanals - absolute, absolute Schwärze, und es schien, als würden sie in den klaffenden Mund eines urzeitlichen Behemoths spazieren.

Ein Auto fuhr langsam an der Bergenwood entlang, ein weiteres an der Conquistador. Das Licht ihrer Scheinwerfer wurde von der Nebelbank gebrochen, so daß die Nacht selbst zu leuchten schien, aber nur wenig dieser seltsamen Beleuchtung drang in den Graben herunter und gar nichts in den Tunnel hinein.