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Als Sam die Schwelle dieses Tunnels überschritten hatte und nach zwei Schritten nicht mehr zu sehen war, folgte Chrissie ihm ohne zu zögern, wenn auch noch voll böser Vorahnungen. Sie gingen langsamer weiter, da der Boden des Tunnels nicht nur steil war, sondern darüber hinaus noch gekrümmt und noch tückischer als der nicht überdachte Graben.

Sam hatte eine Taschenlampe, aber Chrissie wußte, er wollte sie in der Nähe der Tunnelenden nicht benützen. Der Strahl könnte von außen sichtbar sein und die Aufmerksamkeit einer Patrouille auf sie lenken.

Der Tunnel war so durch und durch dunkel wie der Bauch eines Walfischs. Nicht, daß sie gewußt hätte, wie es im Bauch eines Walfischs aussah, aber sie bezweifelte, daß es dort eine Lampe oder auch nur ein Donald-Duck-Nacht-tischlämpchen geben würde, wie sie als Kind eines gehabt hatte. Der Vergleich mit dem Bauch des Wals schien zutreffend zu sein, weil sie das unheimliche Gefühl hatte, der Tunnel wäre in Wirklichkeit ein Magen und das fließende Was -ser Verdauungssaft, eine ätzende Lösung, in der sich ihre Turnschuhe und die Beine der Jeans bereits aufzulösen begannen.

Dann stürzte sie. Sie rutschte auf etwas aus, möglicherweise einem Pilz, der auf dem Boden wuchs und sich dort so sehr festklammerte, daß die Strömung ihn nicht weggespült hatte. Sie ließ das Seil los und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber sie fiel dennoch mit einem lauten Platschen hin und spürte sofort, wie sie von der Strömung mitgerissen wurde.

Sie war geistesgegenwärtig genug, nicht zu schreien. Ein Schrei hätte die Suchtrupps auf sie aufmerksam gemacht -oder Schlimmeres.

Sie prallte atemringend und keuchend, als ihr Wasser in den Mund floß, gegen Sams Bein und brachte auch ihn aus dem Gleichgewicht. Sie spürte, wie er fiel. Sie überlegte, wie lange sie alle tot und verwesend am Ende des langen vertikalen Abflusses am Fuß der Klippe liegen würden, bis man ihre aufgeblähten und purpurnen Überreste finden würde.

5

Tessa hörte das Mädchen im Grabesdunkel des Tunnels fallen und blieb auf der Stelle stehen, stemmte die Füße so gut sie konnte gegen den geneigten und gekrümmten Boden und hielt die Sicherungsleine mit beiden Händen fest. Das Seil wurde binnen einer Sekunde straff, als das Mädchen fortgerissen wurde.

Sam grunzte, und Tessa war klar, daß das Mädchen gegen ihn geprallt war. Das Seil wurde einen Augenblick straff, was ihrer Meinung nach bedeutete, daß Sam weitertaumelte und versuchte, auf den Füßen zu bleiben, während das Mädchen gegen seine Beine drückte und ihn umzuwerfen drohte. Wäre Sam auch gestürzt und von der reißenden Strömung mitgerissen worden, wäre das Seil nicht nur straff gespannt worden, der Ruck hätte ausgereicht, auch Tessa umzuwerfen.

Sie hörte eine Menge Plätschern vor sich. Und einen Fluch von Sam.

Das Wasser stieg höher. Zuerst dachte sie, sie bildete es sich nur ein, aber dann merkte sie, daß die Strömung schon bis über ihre Knie reichte.

Die verdammte Dunkelheit war das Schlimmste, weil man überhaupt nichts sehen konnte, buchstäblich blind war und nicht sicher sein konnte, was vor sich ging.

Sie wurde unvermittelt nach vorne gezogen. Zwei, drei -O Gott! - ein halbes Dutzend Schritte.

Sam, nicht fallen!

Tessa stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht und spürte, daß sie sich am Rand einer Katastrophe befanden, daher stemmte sie sich gegen das Seil und benützte es, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, anstatt in der Hoffnung weiterzustolpern, daß es schlaff werden würde. Sie betete zu Gott, daß sie sich nicht zu heftig dagegen stemmte und von den Füßen gerissen wurde.

Sie schwankte. Das Seil zog heftig an ihrer Taille. Da kein schlaffes Seil durch ihre Hände gleiten konnte, gelang es ihr, den größten Teil der Belastung mit den Armen abzufangen.

Der Druck des Wassers gegen ihre Waden wurde heftiger.

Ihre Füße rutschten.

Seltsame Gedanken rasten ihr durch den Kopf wie ein Film, der in einem Videorekorder im schnellen Vorlauf abgespielt wurde; ein Dutzend Gedanken innerhalb von Sekunden, alle-samt ungewollt, und manche überraschten sie. Sie dachte an das Leben, ans Überleben, daß sie nicht sterben wollte, und das war nicht so überraschend, aber dann dachte sie an Chris -sie, daß sie das Mädchen nicht im Stich lassen wollte, und sie sah im Geiste ein deutliches Bild von sich und Chrissie zusammen vor sich, irgendwo in einem gemütlichen Haus, wo sie wie Mutter und Tochter lebten, und es überraschte sie, wie sehr sie das wollte, da es falsch war, denn Chrissies Eltern waren nicht tot, soweit man sagen konnte, und sie waren vielleicht nicht einmal hoffnungslos verwandelt, denn die Verwandlung - was immer das auch war - ließ sich vielleicht umkehren. Chrissies Familie wurde vielleicht wieder vereint. Dieses Bild konnte sich Tessa nicht vorstellen. Es schien nicht so wahrscheinlich, wie das, auf dem sie und Chrissie vereint waren. Aber es könnte sein. Dann dachte sie an Sam, daß sie vielleicht nie die Möglichkeit hatte, mit ihm zu schlafen, und das verblüffte sie, denn er war zwar attraktiv, aber bisher war ihr nicht klar gewesen, daß sie sich auf romantische Weise zu ihm hingezogen fühlte. Natürlich war seine Verbissenheit im Angesicht seelischer Verzweiflung bewundernswert, und seine völlig ernstgemeinten vier Gründe weiterzuleben machten ihn zu einer Art Herausforderung. Konnte sie ihm einen fünften geben? Oder Goldie Hawn als vierten ersetzen? Erst als sie vor dem Tod durch Ertrinken stand, war ihr bewußt geworden, welch großen Eindruck er in der kurzen Zeit auf sie gemacht hatte.

Ihre Füße rutschten weiter. Der Boden unter dem strömenden Wasser war viel glitschiger als in dem gemauerten Kanal, als würde Moos auf dem Beton wachsen. Tessa versuchte, die Fersen einzugraben.

Sam fluchte verhalten. Chrissie gab ein ersticktes Husten von sich.

Die Wassertiefe war in der Mitte des Tunnels auf etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter gestiegen.

Einen Augenblick später zog das Seil heftig und wurde dann völlig schlaff.

Das Seil war gerissen. Sam und Chrissie waren in den Tunnel gespült worden.

Das Gurgeln-Plätschern-Blubbern des Wassers hallte von den Wänden, neue Echos übertönten die alten, und Tessas Herz schlug so laut, daß sie es hören konnte, aber sie hätte auch ihre Schreie hören sollen, während sie fortgerissen wurden.

Dann hustete Chrissie wieder. Nur ein paar Schritte entfernt.

Die Taschenlampe ging an. Sam deckte fast die ganze Linse mit der Hand ab.

Chrissie war an der Seite des Tunnels, wo der Sog nicht so stark war, sie hatte den Rücken und beide Hände gegen die Wand gepreßt.

Sam hatte die Beine weit gespreizt. Wasser strömte und wirbelte um seine Füße. Er hatte sich herumgedreht. Er sah jetzt bergauf.

Das Seil war doch nicht gerissen. Es war schlaff geworden, weil Sam und Tessa wieder Halt gefunden hatten.

»Alles in Ordnung?« flüsterte Sam dem Mädchen zu.

Sie nickte und hustete immer noch an dem schmutzigen Wasser, das sie geschluckt hatte. Sie runzelte angewidert die Nase, spie ein oder zweimal aus und sagte: »Bäh.«

Sam sah Tessa an und sagte: »Okay?«

Sie konnte nicht sprechen. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, der so hart wie Stein war. Sie schluckte ein paarmal und blinzelte. Eine verspätete Woge der Erleichterung lief durch sie hindurch und nahm ihr den fast unerträglichen Druck von der Brust, und schließlich sagte sie: »Okay. Ja. Okay.«

6

Sam war erleichtert, als sie das Ende des Tunnels ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten. Er blieb einen Augenblick direkt außerhalb des anderen Tunnelendes stehen und sah glücklich zum Himmel auf. Er konnte den Himmel wegen des dichten Nebels nicht sehen, aber das war nebensächlich;