Dieser Abschnitt des offenen Wasserlaufs führte an der Central School von Moonlight Cove vorbei. Der Sportplatz war nur ein paar Schritte von ihm entfernt, und hinter die-sem offenen Gelände, in Dunkelheit und Nebel kaum sichtbar, befand sich das Schulgebäude selbst, das lediglich von ein paar trüben Sicherheitslampen erhellt wurde.
Das Gelände war von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben. Aber davon ließ sich Sam nicht einschüchtern. Zäune hatten immer irgendwann einmal Türen.
7
Harry wartete auf dem Dachboden, hoffte auf das Beste und rechnete mit dem Schlimmsten.
Er lehnte an der Außenwand der langen, dunklen Kammer, in der Ecke, die am weitesten von der Falltür entfernt war, durch die er herauf gebracht worden war. Es gab nichts in dem Raum, hinter dem er sich hätte verstecken können.
Aber wenn jemand so weit ging, den Kleiderschrank neben dem Schlafzimmer auszuräumen, die Klappe hinunterzuziehen, die Treppe herunterzuklappen und den Kopf durch die Luke zu stecken, würde er vielleicht nicht so gewissenhaft sein und in jeder Ecke des Raumes nachsehen. Wenn er beim ersten Kreisen der Taschenlampe nur kahle Dielen und wuselnde Spinnen sah, würde er sie vielleicht abschalten und wieder hinuntergehen.
Das war selbstverständlich absurd. Wenn sich jemand die Mühe machte und auf den Dachboden käme, würde er ihn auch genauestens untersuchen und in jeder Ecke nachsehen. Aber ob diese Hoffnung absurd war oder nicht, Harry klammerte sich daran; er war gut darin, Hoffnung zu hegen, e konnte herzhafte Eintöpfe aus der dünnsten Brühe davon zubereiten, weil Hoffnung sein halbes Leben lang das einzige gewesen war, das ihm Halt gegeben hatte.
Ihm war nicht unbehaglich zumute. Als Vorbereitung auf den unbeheizten Dachboden hatte er - damit es schneller ging - mit Sams Hilfe Wollsocken, wärmere Hosen als die, die er angehabt hatte, und zwei Pullover angezogen.
Komisch, daß viele Menschen dachten, ein Gelähmter würde überhaupt nichts in seinen gebrauchsunfähigen Extremitäten spüren. In manchen Fällen stimmte das: alle Nerven waren abgetrennt, kein Gefühl mehr vorhanden. Aber es gab Myriaden verschiedene Wirbelsäulenverletzungen; abgesehen von einem völligen Bruch variierte der Rest Ge -fühl, der dem Opfer blieb, sehr stark.
In Harrys Fall war es so, daß er zwar einen Arm und ein Bein gar nicht mehr, das andere Bein kaum noch bewegen konnte, aber er konnte immer noch Hitze und Kälte spüren. Wenn ihn etwas zwickte, bemerkte er zwar keine Schmerzen, aber doch einen dumpfen Druck.
Körperlich spürte er wesentlich weniger als ein gesunder Mann, daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Aber nicht alle Empfindungen waren körperlicher Natur. Er war sicher, daß ihm die wenigsten Menschen glauben würden, aber seine Behinderung hatte sein seelisches Leben tatsächlich bereichert. Obwohl er notwendigerweise zu einer Art Einsiedler geworden war, hatte er gelernt, den Mangel an menschlichem Kontakt auszugleichen. Bücher hatten ihm geholfen. Bücher öffneten die Tür zu Welten. Und das Teleskop. Aber weitgehend sein unbändiger Wille, ein Leben zu führen, das so erfüllt wie möglich war, hatten ihn in Herz und Verstand gesund bleiben lassen.
Wenn dies seine letzten Stunden waren, würde er die Kerze ohne Verbitterung ausblasen, wenn die Zeit gekommen war, sie zu löschen. Er bedauerte, was er verloren hatte, aber wichtiger war, er schätzte, was ihm geblieben war. In letzter Analyse war er der Überzeugung, er hatte ein Leben gelebt, das im Großen und Ganzen gut, lohnend und kostbar gewesen war.
Er hatte zwei Waffen bei sich. Einen 45er Revolver. Eine 38er Pistole. Wenn sie zu ihm auf den Speicher kämen, würde er mit der Pistole auf sie schießen, bis sie leer wäre. Dann würde er ihnen alle Patronen des Revolvers zu kosten geben, bis auf eine. Die letzte Patrone würde er für sich selbst aufheben.
Er hatte keine zusätzlichen Patronen mitgebracht. In einer Krisensituation konnte ein Mann mit nur einer guten Hand nicht schnell genug laden, ohne daß die Anstrengung zu einem komischen Finale geriet.
Das Trommeln des Regens auf dem Dach hatte nachgelassen. Er fragte sich, ob das wieder nur eine Atempause in dem Sturm war, oder ob er zu Ende ging.
Es wäre schön, die Sonne noch einmal zu sehen.
Er machte sich mehr Sorgen um Moose als um sich selbst. Der arme Hund war ganz alleine da unten. Er hoffte, die Schreckgespenster würden dem guten alten Moose nichts tun, wenn sie schließlich kamen. Und wenn sie auf den Dachboden kämen und ihn zwängen, Selbstmord zu begehen, dann hoffte er, Moose würde nicht lange ohne ein gutes Zuhause sein.
8
Für den umherfahrenden Loman schien Moonlight Cove tot zu sein und zugleich von Leben zu wimmeln.
Richtete man sich nach den üblichen Anzeichen von Leben in einer Kleinstadt, war diese eine leere Hülle und ebenso verlassen und von der Sonne ausgetrocknet wie jede Geisterstadt in der Mohave. Die Geschäfte, Bars und Restaurants hatten geschlossen. Sogar das sonst überfüllte Perez Family-Restaurant war dunkel; niemand war gekommen, um es zu öffnen. Die einzigen Fußgänger, die nach dem Regen unterwegs waren, waren Patrouillen oder Verwandlungsteams. Und auch die Polizeipatrouillen und die Zwei-Mann-Teams, die in privaten Autos unterwegs waren, hatten die Straßen für sich allein.
Aber es wimmelte in der Stadt von perversem Leben. Er sah mehrmals seltsame, hastige Gestalten, die sich durch Nacht und Nebel bewegten, das immer noch verstohlen taten, aber schon ungleich kühner als in den vorangegangenen Nächten. Wenn er anhielt oder langsamer fuhr, um diese Marodeure zu studieren, hielten manche auch in den tiefen Schatten inne und sahen ihn mit haßerfüllten gelben oder grünen oder rotglühenden Augen an, als würden sie ihre Chancen abschätzen, den Streifenwagen anzugreifen und Loman herauszuzerren, bevor er den Fuß von der Bremse nehmen und davonfahren konnte. Wenn er sie beobachtete, erfüllte ihn das Verlangen, das Auto, seine Kleidung und die starre menschliche Gestalt aufzugeben und sich in ihrer einfacheren Welt des Jagens, Essens und Paarens zu ihnen zu gesellen. Er wandte sich jedesmal rasch von ihnen ab und fuhr weiter, bevor er solchen Impulsen folgen konnte. Hier und da kam er an Häusern vorbei, in deren Fenstern unheimliches Licht leuchtete, in dem sich so groteske und unirdische Schatten bewegten, daß sein Herz schneller schlug und seine Handflächen feucht wurden, obwohl er fern von ihnen und wahrscheinlich außerhalb ihres Zugriffs war. Er hielt nicht an um festzustellen, welche Geschöpfe in diesen Häusern wohnten oder welchen Tätigkeiten sie nachgingen, denn er spürte, daß sie mit dem verwandt waren, was aus Denny geworden war, und daß sie in vieler Hinsicht gefährlicher waren als die umherstreunenden Regressiven.
Er lebte jetzt in einer Lovecraftschen Welt urzeitlicher und kosmischer Kräfte, monströser Wesenheiten, die durch die Nacht schlichen, wo die Menschen zu wenig mehr als Vieh herabgewürdigt waren, wo das jüdisch-christliche Universum verdrängt worden war, die von dunklen Gelüsten, Spaß an Grausamkeit und einem unstillbaren Verlangen nach Macht motiviert wurden. In der Luft, in den Nebelschwaden, in den schattigen, tropfenden Bäumen, in den unbeleuchteten Straßen und sogar im natriumgelben Leuchten der Lampen an den Hauptstraßen herrschte die allumfassende Stimmung vor, daß in dieser Nacht nichts Gutes geschehen konnte... aber daß alles andere passieren konnte, wie phantastisch oder bizarr es auch sein mochte.
Er hatte im Lauf der Jahre unzählige Taschenbücher gelesen und kannte Lovecrafts Werk. Er hatte ihm nicht einen Bruchteil so gut gefallen wie Louis L'Amour, weil sich L'Amour mit der Realität beschäftigte, während H. P. Love-craft sich mit dem Unmöglichen befaßt hatte. So jedenfalls war es Loman damals vorgekommen. Jetzt wußte er, Menschen konnten in der wirklichen Welt Höllen erschaffen, die denen der fantasiebegabtesten Schriftsteller in nichts nachstanden.
Lovecraftsche Verzweiflung und Entsetzen strömten in größeren Mengen durch Moonlight Cove als zuvor der Regen gefallen war. Während er durch die verwandelten Straßen fuhr, ließ Loman seine Dienstwaffe in Reichweite neben sich auf dem Beifahrersitz liegen.