An der Rückwand des Schulgebäudes befanden sich an sechs verschiedenen Stellen Türen. Sie gingen von einer zur anderen, während Sam sie alle begutachtete und die Schlösser im Schein der Taschenlampe, die er mit der Hand abdeckte, untersuchte. Er konnte sie offenbar nicht alle aufbrechen, und das enttäuschte sie, weil sie gedacht hatte, FBI-Agenten wären so gut ausgebildet, daß sie in einem Notfall einen Banktresor mit Spucke und einer Haarklammer öffnen konnten.
Er versucht es auch an ein paar Fenstern und leuchtete scheinbar ziemlich lange mit der Taschenlampe durch die Scheiben. Er untersuchte nicht die Zimmer, sondern die inneren Simse und Fensterrahmen.
An der letzten Tür - die einzige, die Glasscheiben in der oberen Hälfte hatte, alle anderen waren kahle Rechtecke aus Metall gewesen - schaltete Sam die Taschenlampe aus, sah Tessa ernst an und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit ihr. »Ich glaube nicht, daß es hier ein Alarmsystem gibt. Könnte mich aber irren. Aber es gibt kein Alarmband an den Fensterrahmen, und, soweit ich sehen kann, auch keine verkabelten Kontakte an den Rahmen oder Riegeln.«
»Sind das die einzigen möglichen Alarmsysteme, die sie haben könnten?« murmelte Tessa.
»Nun, es gibt Bewegungsdetektoren, die entweder Schallwellen aussenden oder elektronische Augen haben. Aber die wären für eine Schule zu kompliziert und für ein solches Gebäude wahrscheinlich auch zu empfindlich.«
»Also, was jetzt?«
»Jetzt breche ich ein Fenster auf.«
Chrissie rechnete damit, daß er eine Rolle Klebeband aus der Tasche holen und eine Scheibe damit abkleben würde, um den Lärm des zersplitternden Glases zu dämpfen und zu verhindern, daß lautstark Splitter zu Boden fielen. So machten sie es normalerweise in den Büchern. Aber er stellte sich nur seitlich zur Tür, zog den Arm vor und rammte den Ellbogen durch die zwanzig Zentimeter im Quadrat messende Scheibe in der unteren rechten Ecke des Fensterkreuzes. Das Glas barst und machte einen Höllenlärm, als es zu Boden fiel. Vielleicht hatte er vergessen, sein Klebeband mitzubringen.
Er griff durch die gesplitterte Scheibe, tastete nach dem Schloß, öffnete es und ging als erster hinein. Chrissie folgte ihm und versuchte, nicht auf die Glasscherben zu treten.
Sam schaltete die Taschenlampe ein. Er schirmt sie nicht ganz so sehr ab wie draußen, aber er versuchte eindeutig, den Widerschein von den Fenstern abzuhalten.
Sie waren in einem langen Flur. Es roch nach dem Zedern -Piniengeruch, der von dem körnigen grünen Desinfektionsmittel und Staubfänger herrührte, das die Hausmeister jahrelang auf den Boden gestreut und dann aufgewischt hatten, bis Fliesen und Wände den Geruch angenommen hatten. Sie kannte den Geruch von der Thomas-Jefferson-Grundschule und war enttäuscht, ihn auch hier zu finden. Sie hatte sich eine High-School immer als besonderen, geheimnisvollen Ort vorgestellt, aber wie besonders oder geheimnisvoll konnte er schon sein, wenn sie dieselben Desinfektionsmittel wie in der Grundschule verwendeten?
Tessa machte leise die Tür hinter ihnen zu.
Sie standen einen Moment da und lauschten.
Es war still in der Schule.
Sie gingen den Flur entlang, sahen in die Klassenzimmer und Waschräume und Spinde auf beiden Seiten und suchten nach dem Computerlabor. Nach etwa vierzig Metern kamen sie zur Kreuzung eines anderen Flurs. Sie blieben einen Augenblick auf der Kreuzung stehen und lauschten mit geneigten Köpfen.
In der Schule war es immer noch still. Und dunkel.
Das einzige Licht war die Taschenlampe, die Sam noch in der linken Hand hielt, aber nicht mehr mit der rechten abschirmte. Er hatte den Revolver aus dem Halfter gezogen und brauchte die rechte Hand, um ihn zu halten.
Nach einer langen Pause sagte Sam: »Niemand da.«
Was der Fall zu sein schien.
Chrissie fühlte sich vorübergehend besser, sicherer.
Andererseits, wenn er wirklich glaubte, daß sie die einzigen in dem Gebäude waren, warum steckte er den Revolver dann nicht wieder weg?
10
Während er durch sein Reich fuhr und ungeduldig auf Mitternacht wartete, die immer noch fünf Stunden entfernt war, war Thomas Shaddack weitgehend auf eine kindliche Bewußtseinsstufe zurückgefallen. Jetzt, wo sein Triumph kurz bevorstand, konnte er die Maske des erwachsenen Mannes abwerfen, die er so lange gehalten hatte, und er tat es mit Erleichterung. Er war eigentlich nie ein Erwachsener gewesen, sondern ein Junge, dessen emotionale Entwicklung im Alter von zwölf Jahren gestoppt worden war, als die Botschaft des Mondfalken nicht nur zu ihm gekommen, sondern in ihn eingepflanzt worden war; danach hatte er emotionales Erwachsenwerden entsprechend seines körperlichen Wachstums vorgetäuscht.
Aber dieses Vortäuschen war jetzt nicht mehr nötig.
Auf einer bestimmten Ebene hatte er das schon immer über sich gewußt und es als seine große Stärke betrachtet, als Vorteil gegenüber jenen, die die Kindheit hinter sich gelassen hatten. Ein zwölfjähriger Junge konnte einen Traum mit mehr Entschlossenheit als ein Erwachsener pflegen und nähren, weil Erwachsene ständig von widerstreitenden Bedürfnissen und Begierden abgelenkt wurden. Aber ein Junge an der Schwelle der Pubertät hatte die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit, sich einzig und allein auf einen einzigen großen Traum zu konzentrieren. Hinreichend verdreht, war ein zwölfjähriger Junge der perfekte Monomane.
Das Projekt Moonhawk, sein großer Traum von gottgleicher Macht, hätte niemals Früchte getragen, wenn er auf die übliche Weise reif geworden wäre. Er verdankte seinen bevorstehenden Triumph seiner verhinderten Entwicklung.
Er war wieder ein Junge, nicht mehr heimlich, sondern offen, und er brannte darauf, jeder Laune genüge zu tun, zu nehmen, was immer er wollte, alles zu tun, was die Vorschriften verletzte. Zwölfjährigen Jungs machte es Spaß, Vorschriften zu übertreten und die Autoritäten herauszufordern. Zwölfjährige Jungs waren schlimmstenfalls gesetzlos, am Rande einer hormonbedingten Rebellion.
Aber er war mehr als gesetzlos. Er war ein Junge, der auf Kaktusplätzchen abhob, die er vor langer Zeit gegessen hatte, die aber einen psychischen, wenn nicht einen materiellen Rückstand hinterlassen hatten. Er war ein Junge, der wußte, daß er ein Gott war. Und das Potential eines jeden Jungen für Grausamkeit verblaßte im Vergleich mit der Grausamkeit von Göttern.
Um sich die Zeit bis Mitternacht zu vertreiben, stellte er sich vor, was er mit seiner Macht anfangen würde, wenn ganz Moonlight Cove unter seine Herrschaft gefallen war. Bei einigen seiner Vorstellungen zitterte er unter einer seltsamen Mischung aus Erregung und Ekel.
Er war auf dem Iceberry Way, als ihm bewußt wurde, daß der Indianer bei ihm war. Er war überrascht, als er den Kopf drehte und Runningdeer auf dem Beifahrersitz sitzen sah. Er brachte den Wagen tatsächlich mitten auf der Straße zum Stehen und sah schockiert und ungläubig und ängstlich hinüber.
Aber Runningdeer bedrohte ihn nicht. Der Indianer sprach nicht einmal mit ihm oder sah ihn an, sondern starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.
Allmählich begriff Shaddack. Der Geist des Indianers gehörte jetzt ihm, er war sein Besitz - so sicher wie der Lieferwagen. Die großen Geister hatten ihm den Indianer als Ratgeber gegeben, als Belohnung dafür, daß er Moonhawk zum Erfolg geführt hatte. Aber diesesmal hatte er das Sagen, nicht Runningdeer, und der Indianer würde nur dann etwas sagen, wenn er angesprochen würde.
»Hallo, Runningdeer«, sagte er.
Der Indianer sah ihn an. »Hallo, Kleiner Häuptling.«
»Du gehörst jetzt mir.«
»Ja, Kleiner Häuptling.«
Shaddack dachte einen ganz kurzen Augenblick daran, daß er verrückt war und Runningdeer eine Illusion war, die sein kranker Verstand erzeugt hatte. Aber monomanische Jungs haben nicht die Fähigkeit, ausgiebig über ihren Geisteszustand nachzudenken, daher verschwand der Gedanke so schnell wieder aus seinem Verstand, wie er gekommen war.