Seine Vision:
Abgesehen von dem dünnen Faden des Denkens, der ihn noch mit der Wirklichkeit verband, stellte er sich vor, er wäre in einer gewaltigen, arbeitenden Maschine, die so unermeßlich war, daß ihre Dimensionen ebenso schwer zu bestimmen waren wie die des Universums selbst. Es war die Landschaft eines Traums, aber unendlich plastischer und intensiver als in einem Traum. Er schwebte wie ein fortgewehter Splitter in den Eingeweiden dieses kolossalen imaginären Mechanismusses, an massiven Wänden und miteinander verbundenen Säulen stampfender Antriebskolben vorbei, rasselnden Antriebsketten, Myriaden stoßender Zylinder, die ihrerseits mit großen geschmierten Kurbelwellen verbunden waren, die Zahnräder verschiedenster Größen drehten. Servomotoren summten, Kompressoren zischten, Verteiler funkten, wenn elektrische Ströme durch Millionen verflochtener Kabel zu den entferntesten Stellen der Konstruktion flossen.
Für Shaddack war der erregendste Teil dieser visionären Welt die Art und Weise, wie Schäfte aus Stahl und Kolben aus Legierungen und Hartgummidichtungen und Alumi-niumabdeckungen mit organischen Teilen verbunden waren und so eine revolutionäre Einheit mit zwei Lebensformen bildeten: wirkungsvolle mechanische Animation und das Pulsieren organischen Gewebes. Als Pumpen hatte der Ingenieur menschliche Herzen genommen, die unablässig in ihrem alten Klopf-klopf-Rhythmus pochten und durch dicke Arterien mit Gummischläuchen verbunden waren, die sich in die Wände schlängelten; manche pumpten Blut in die Teile der Maschine, die organischer Schmierung bedurften, während andere hochviskoses Öl pumpten. In andere Teile der unendlichen Maschine waren Zehntausende von Lungenflügeln eingebaut, die als Blasebälge und Filter dienten; Sehnen und tumorartige Fleischwucherungen waren Verbindungsstücke für lange Röhren und Gummischläuche, die flexibler waren und dichter schlössen als gewöhnliche, nichtorganische Dichtungen das hätten bewerkstelligen können.
Hier waren die besten Konzepte von organischen und mechanischen Systemen zu einer einzigen perfekten Struktur vereint. Während Thomas Shaddack sich den Weg durch die endlosen Gründe seines erträumten Ortes vorstellte, war er fasziniert, wenngleich er nicht wußte - und ihm auch nichts daran lag -, welche endgültige Funktion alles hatte, welches Produkt oder welche Leistung es durch seine Funktion hervorbringen sollte. Das Gebilde erregte ihn, weil es eindeutig alles mit höchstem Wirkungsgrad erfüllte, weil die organischen und nichtorganischen Teile so brillant miteinander gekoppelt waren.
Shaddack hatte sich sein ganzes Leben lang, soweit er sich an seine einundvierzig Jahre erinnern konnte, darum bemüht, die Einschränkungen des menschlichen Daseins zu überwinden, hatte sich von ganzem Herzen und mit all seiner Willenskraft angestrengt, über das Schicksal seiner Rasse hinauszuwachsen. Er wollte mehr als nur ein Mensch sein. Er wollte die Macht eines Gottes haben und nicht nur seine eigene Zukunft bestimmen, sondern die der gesamten Menschheit. Wenn er in seinem privaten Tank, frei von Sinneswahrnehmungen, von der Vision seines kybernetischen Organismus mitgerissen wurde, war er dieser ersehnten Metamorphose näher als in der wirklichen Welt, und das löste sein Hochgefühl aus.
Denn für ihn war diese Vision nicht nur intellektuell stimulierend und emotional bewegend, sondern auch außerordentlich erotisch. Wenn er durch diese imaginäre halborganische Maschine schwebte und beobachtete, wie sie pochte und pulsierte, erlebte er einen Orgasmus, den er nicht nur in den Genitalien, sondern in jeder Faser spürte; tatsächlich bemerkte er seine heftige Erektion gar nicht, auch nicht die kraftvolle Ejakulation, um die sich sein ganzer Körper zusammenzuziehen schien, denn er empfand die Lust nicht auf den Penis konzentriert, sondern im ganzen Körper verteilt. Milchige Samenfäden trieben in dem dunklen Teich der Magnesiumsulfatlösung.
Ein paar Minuten später aktivierte die automatische Zeitschaltuhr der Kammer das Licht und einen leisen Wecker. Shaddack wurde aus seinem Traum in die Wirklichkeit von Moonlight Cove zurückgeholt.
11
Chrissie Fosters Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sie konnte sich rasch durch das unbekannte Gelände bewegen.
Als sie den Rand des Tals erreichte, ging sie zwischen Montereyzypressen hindurch und fand einen weiteren Maultierpfad, der nach Süden durch den Wald rührte. Die gewaltigen Zypressen wurden von den umliegenden Bäumen vor dem Wind geschützt, daher waren sie üppig und stattlich, weder schlimm verkrümmt, noch von verkümmerten Ästen verunziert, wie direkt an der windumtosten Küste. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, sich zu diesen laubigen Höhen aufzuschwingen und zu hoffen, daß ihre Verfolger sie nicht bemerkten und vorüberzögen. Aber sie wagte nicht, dieses Risiko einzugehen; wenn sie sie witterten oder ihre Anwesenheit durch andere Mittel entdeck-ten, würden sie heraufgeklettert kommen, und sie hätte keinen Fluchtweg mehr.
Sie eilte weiter und kam wenig später zu einer Lücke zwischen den Bäumen. Dahinter befand sich eine Wiese, deren Hang von Ost nach West geneigt war, wie der größte Teil des Landes hier. Der Wind nahm zu und war so stark, daß er ihr blondes Haar unablässig zerzauste. Der Nebel war nicht mehr so dünn wie vorhin, als sie die Foster-Stallungen zu Pferde verlassen hatte, aber das Mondlicht konnte noch so ungehindert scheinen, daß es das kniehohe Gras, das sich im Wind wiegte, wie mit Frost überziehen konnte.
Während sie über die Wiese zur nächsten Baumgruppe lief, sah sie einen großen, weihnachtsbaumartig mit Lichtern geschmückten Lastwagen, der auf der fast eine Meile östlich gelegenen Autobahn Richtung Süden fuhr, auf der zweiten Hügelkette an der Küste. Aber sie entschied, daß sie niemanden auf der fernen Autobahn um Hilfe bitten würde, denn das waren allesamt Fremde, die zu fernen Orten unterwegs waren und ihr wahrscheinlich noch weniger glauben würden als die Einheimischen hier. Außerdem las sie Zeitungen und sah fern, daher wußte sie alles über die Massenmörder, die auf den Autobahnen unterwegs waren, und sie konnte sich die Schlagzeilen über ihr trauriges Schicksal mühelos vorstellen: JUNGES MÄDCHEN IN DODGE-LASTWAGEN VON UMHERZIEHENDER KANNIBALENHORDE GEFRESSEN; MIT BROKKOLI SERVIERT UND MIT PETERSILIE ANGERICHTET; KNOCHEN FÜR SUPPE AUSGEKOCHT.
Die Landstraße lag eine halbe Meile näher auf den Gipfeln der ersten Hügel, aber da war kein Verkehr zu sehen. Das machte nichts, denn sie hatte schon entschieden, daß sie dort keine Hilfe suchen wollte, weil sie Angst vor Tucker und seinem Honda hatte.
Aber sie hatte sich freilich eingebildet, sie hätte drei deutlich unterscheidbare Stimmen im unheimlichen Heulen ihrer Verfolger gehört, was bedeuten mußte, daß Tucker sein Auto verlassen hatte und jetzt mit ihren Eltern unterwegs war. Vielleicht konnte sie doch unbesorgt zur Landstraße gehen.
Sie dachte darüber nach, während sie über die Wiese lief.
Aber bevor sie sich entschieden hatte, die Richtung zu ändern, ertönten hinter ihr wieder die gräßlichen Schreie, immer noch im Wald, aber viel näher als zuvor. Zwei oder drei Stimmen heulten gleichzeitig, als wäre ihr eine Meute kläffender Hunde auf den Fersen, die aber seltsamer und wilder als gewöhnliche Hunde waren.
Dann trat Chrissie plötzlich ins Leere und fiel abwärts, Sekunden hatte sie den Eindruck, als stürzte sie in einen tiefen Abgrund. Aber es war nur ein zweieinhalb Meter breiter und eineinhalb Meter tiefer Abwasserkanal, der die Wiese teilte, und sie rollte unverletzt hinab.
Das wütende Kreischen der Verfolger war lauter, näher, und jetzt hatten ihre Stimmen einen frenetischeren Klang... einen Unterton von Gier und Hunger.
Sie rappelte sich auf und wollte gerade versuchen, die eineinhalb Meter hohe Betonwand des Grabens hinaufzukommen, als sie bemerkte, daß der Graben links v>n ihr, aufwärts, in ein gewaltiges Rohr überging, das sich in die Erde bohrte. Sie hielt aus halbem Wege inne und dachte über diese neue Möglichkeit nach.