Der Fahrstuhl.
18
Als er den halben Weg durch den Korridor zurückgelegt hatte, in der linken Hand die trübe Taschenlampe, in der rechten seinen Revolver, und Chrissie gerade einholte, hörte Sam draußen eine Sirene näher kommen. Sie war nicht lebensgefährlich, aber sie war nahe genug. Er konnte nicht sagen, ob der Streifenwagen sich der Rückseite des Schulgebäudes näherte, wohin sie flohen, oder ob er zum Eingang fuhr.
Chrissie war sich offenbar auch nicht sicher. Sie blieb stehen und sagte: »Wohin, Sam? Wohin?«
Tessa sagte hinter ihnen: »Sam, die Tür!«
Er verstand einen Augenblick nicht, was sie meinte. Dann sah er die Tür am anderen Ende des Flurs aufgehen, etwa dreißig Meter entfernt, dieselbe Tür, durch die sie hereingekommen waren. Ein Mann trat ein. Die Sirene heulte immer noch und kam näher, also war Verstärkung unterwegs, ein ganzes Bataillon. Der Mann, der durch die Tür gekommen war, war lediglich der erste - groß, ungefähr einen Meter neunzig, aber ansonsten nur ein Schatten, der von der Sicherheitsleuchte rechts außerhalb der Tür nur minimal beleuchtet wurde.
Sam feuerte einen Schuß mit seinem 38er ab, ohne festzu-stellen, ob der Mann ein Feind war, denn sie waren alle Feinde, jeder einzelne - ihr Name war Legion -, und er wußte, der Schuß ging fehl. Seine Treffsicherheit wurde von dem verletzten Handgelenk beeinträchtigt, das nach ihren Abenteuern im Tunnel teuflisch schmerzte. Mit dem Rückstoß schössen Schmerzen durch das Gelenk bis zur Schulter hinauf und wieder zurück, Herrgott, die Schmerzen strömten wie Säure durch ihn, von der Schulter bis zu den Fingerspit -zen. Er hätte beinahe die Waffe fallengelassen.
Während das Echo von Sams Schuß noch von den Wänden des Flurs hallte, eröffnete der Bursche am anderen Ende das Feuer mit seiner eigenen Waffe, aber er verfügte über schwere Artillerie. Eine Schrotflinte. Glücklicherweise konnte er nicht damit umgehen. Er zielte zu hoch, weil er offenbar nicht wußte, wie sehr der Rückstoß die Mündung hochreißen würde. Als Folge dessen ging der erste Schuß nur zehn Meter von ihm entfernt in die Decke und riß eine der ausgeschalteten Neonröhren und ein paar schalldämpfende Fliesen herunter. Seine Reaktion bestätigte mangelnde Erfahrung im Umgang mit der Waffe; er glich den Rückstoß zu sehr aus und hielt die Mündung zu weit nach unten, als er zum zweiten Mal abdrückte, daher traf die zweite Ladung den Boden weit vor dem Ziel.
Sam blieb kein müßiger Beobachter der Fehlschüsse. Er packte Chrissie und stieß sie nach links, quer über den Flur in ein dunkles Zimmer, während der zweite Schuß Fetzen aus dem P VC-Boden riß. Tessa war direkt hinter ihnen. Sie schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen, als würde sie sich für Superwoman halten und denken, daß alle Kugeln, die durch das Holz drangen, harmlos von ihrem Rücken abprallen würden.
Sam hielt ihr die erbärmlich dunkle Taschenlampe hin. »Ich brauche mit der Handgelenksverletzung beide Hände, um mit der Waffe zu schießen.«
Tessa leuchtete mit dem schwachen gelben Schein in dem Zimmer herum. Sie waren im Raum des Orchesters. Rechts von der Tür stiegen breite Stufen mit Stühlen und Notenständern bis zur Rückwand empor. Links befand sich ein großer Freiraum und das Podium des Dirigenten, ein Pult aus hellem Holz und Metall. Und zwei Türen. Beide standen offen und führten in angrenzende Zimmer.
Chrissie mußte sich nicht bitten lassen, Tessa zur nächstgelegenen der beiden Türen zu folgen, und Sam machte den Schluß, ging rückwärts und behielt die Tür im Auge, durch die sie gekommen waren.
Die Sirene draußen war verstummt. Jetzt würden sie es mit mehr als einem Mann mit Schrotflinte zu tun bekommen.
19
Sie hatten die beiden unteren Stockwerke durchsucht. Jetzt waren sie im Schlafzimmer im dritten Stock.
Harry konnte sie reden hören. Ihre Stimmen drangen durch ihre Decke, seinen Fußboden. Aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten.
Er hoffte fast, sie würden die Luke im Kleiderschrank sehen und beschließen, hier heraufzukommen. Er wollte eine Chance, ein paar von ihnen wegzupusten. Für Moose. Er war zwanzig Jahre lang Opfer gewesen, und jetzt hatte er es dicke satt; er wollte sie wissen lassen, daß Harry Talbot immer noch ein Mann war, mit dem man rechnen mußte - und daß Moose zwar nur ein Hund war, er aber dennoch ein Leben hatte, das man ihm nicht einfach ohne Folgen nehmen durfte.
20
Loman sah im wabernden Nebel den Streifenwagen, der neben Shaddacks Lieferwagen parkte. Er bremste daneben, als Paul Amberlay gerade ausstieg. Amberlay war hager und sehnig und sehr klug, einer von Lomans besten jungen Beamten, aber jetzt sah er wie ein Schuljunge aus, zu jung für einen Polizisten - und ängstlich.
Als Loman aus dem Auto ausstieg, kam der sichtlich zitternde Amberlay mit der Waffe in der Hand auf ihn zu. »Nur Sie und ich? Wo, zum Teufel, sind alle anderen? Dies ist ein Generalalarm.«
»Wo die anderen sind?« fragte Loman. »Hören Sie, Paul. Hören Sie doch.«
Überall in der Stadt wurden Dutzende wilder Stimmen laut, die ein unheimliches Lied sangen und entweder einander zuheulten oder den unsichtbaren Mond herausforderten, der über den ausgewrungenen Wolken schwebte.
Loman ging zum Heck des Streifenwagens und machte den Kofferraum auf. Sein Wagen war, wie alle anderen, mit einer Flinte Kaliber 20 ausgerüstet, für die er im friedlichen Moonlight Cove noch nie Verwendung gehabt hatte. Aber New Wave, das die Polizei großzügig ausgerüstet hatte, knauserte nicht mit Material, auch wenn es als unnötig erachtet wurde. Er zog die Schrotflinte aus der Halterung an der Rückwand des Kofferraums.
Amberlay kam zu ihm und sagte: »Wollen Sie mir sagen, sie seien regressiv geworden, die ganze Truppe, außer Ihnen und mir?«
»Hören Sie doch«, wiederholte Loman, während er die Schrotflinte an die Stoßstange lehnte.
»Aber das ist Wahnsinn!« beharrte Amberlay. »Mein Gott, Sie meinen doch nicht, daß die ganze Sache zusammenbricht, die ganze verdammte Sache?«
Loman ergriff einen Karton Patronen, der sich in der rechten Reifenwölbung des Kofferraums befand, und riß den Deckel auf. »Spüren Sie nicht auch das Verlangen, Paul?«
»Nein!« sagte Amberlay zu schnell. »Nein, ich spüre es nicht, ich spüre überhaupt nichts.«
»Ich spüre es«, sagte Loman und schob fünf Schuß in die Flinte - einen in die Kammer, vier ins Magazin. »Oh, Paul, ich spüre es eindeutig. Ich will mir die Kleidung vom Leib reißen und mich verwandeln, verwandeln, und einfach laufen, frei sein, mich ihnen anschließen, jagen und töten und mit ihnen laufen.«
»Ich nicht, nein, niemals«, sagte Amberlay.
»Lügner«, sagte Loman. Er riß die geladene Waffe hoch, drückte auf Amberlay ab und pustete ihm den Kopf weg.
Er hätte dem jungen Beamten nicht trauen können, hätte ihm nicht den Rücken zuwenden können, nicht während der Drang, regressiv zu werden, so stark in ihm war und die Stimmen der Nacht ihren Sirenengesang anstimmten.
Während er weitere Munition in die Taschen steckte, hörte er, wie im Schulgebäude eine Schrotflinte abgefeuert wurde.
Er fragte sich, ob das Gewehr sich in den Händen von Shaddack oder Booker befand. Er bemühte sich, sein rasendes Entsetzen zu kontrollieren und den teuflischen und übermächtigen Drang zu bekämpfen, seine menschliche Gestalt aufzugeben. Loman ging hinein, um es herauszufinden.
21
Tommy Shaddack hörte eine andere Schrotflinte, aber er dachte nicht weiter darüber nach, denn schließlich waren sie jetzt im Krieg. Man konnte hören, was für ein Krieg es war, wenn man einfach in die Nacht hinaustrat und den Schreien der Kämpfenden lauschte, die von den Bergen zum Meer herunterhallten. Er war versessen darauf, Booker, die Frau und das Mädchen zu erwischen, die er im Flur gesehen hatte, denn er wußte, die Frau mußte das Flittchen Lockland und das Mädchen mußte Chrissie Fester sein, obwohl er sich nicht erklären konnte, wie sie zusammengefunden hatten.