Tessa deutete stumm auf eine andere Schlagzeile:
GEHEIME EXPERIMENTE DES PENTAGON URSACHE GEHEIMNISVOLLER KATASTROPHE
Das Pentagon war in gewissen Kreisen der bevorzugte Schwarze Mann, es wurde ob seines wahren und erdichteten Bösen beinahe geliebt, weil das Leben leichter zu verstehen war, wenn man glaubte, daß es die Wurzel allen Übels war. Für jene, die so dachten, war das Pentagon beinahe das stapfende alte Ungeheuer Frankensteins mit seinen klobigen Schuhen und dem zu kleinen Anzug, furchteinflößend, aber begreifbar, pervers und verabscheuungswürdig, aber dennoch tröstlich vorhersehbar und den Gedanken an schlimmere und komplexere Feinde durchaus vorzuziehen.
Chrissie zog eine seltene Sondernummer eines der führenden nationalen Regenbogenblätter aus dem Regal, das nur Artikel über Moonlight Cove enthielt. Sie zeigte ihnen die größte Schlagzeile:
AUSSERIRDISCHE LANDEN AN DER KÜSTE KALIFORNIENS WILDE FLEISCHFRESSER ÜBERFALLEN GANZE STADT
Sie sahen einander einen Moment ernst an, dann lächelten sie. Chrissie lachte zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder. Es war kein herzliches Lachen, nur ein Kichern, und es hätte eine Spur Ironie darin sein können, die zu scharf für ein elfjähriges Mädchen war, ganz zu schweigen von einer Spur Melancholie, aber es war ein Lachen. Als er sie lachen hörte, fühlte Sam sich besser.
40
Joel Ganowicz von United Press International war seit Mittwoch vormittag am Stadtrand von Moonlight Cove an der einen oder anderen Straßensperre. Er hauste in einem Schlafsack auf dem Boden, benützte den Wald als Toilette und bezahlte einen arbeitslosen Zimmermann aus Aberdeen Wells dafür, daß er ihm Mahlzeiten brachte. Er war noch nie in seinem Leben so heiß auf eine Story gewesen und hatte soviel dafür geopfert. Und er war nicht sicher, warum. Ja, zugegeben, es war die größte Story des Jahrzehnts, vielleicht sogar noch größer. Aber warum verspürte er dieses Bedürfnis, hier herumzuhängen und jeden winzigen Teil der Wahrheit zu erfahren? Warum war er so besessen? Sein Verhalten war ihm ein Rätsel.
Er war nicht der einzige Besessene.
Die Story von Moonlight Cove war im Verlauf von drei Tagen stückweise an die Medien weitergegeben und am Donnerstag abend während einer vierstündigen Pressekonferenz in allen Einzelheiten dargelegt worden, und die Reporter hatten viele der zweihundert Überlebenden ausgiebig interviewt, aber dennoch hatte keiner genug. Der einzigartige Schrecken des Todes der Opfer - und die Anzahl, fast dreitausend, ein Vielfaches der Opfer von Jonestown - verblüffte Zeitungsleser und Fernsehzuschauer immer wieder, so oft sie die Einzelheiten auch hörten. Freitag morgen war die Story heißer denn je.
Aber Joel spürte, daß es nicht einmal die grimmigen Einzelheiten oder die spektakulären Statistiken waren, die das öffentliche Interesse wachhielten. Es war mehr als das.
Freitag morgen um zehn Uhr saß Joel auf dem zusammengerollten Schlafsack auf einem Acker an der Landstraße, zehn Meter vom Polizei-Checkpoint nördlich der Holliwell entfernt, genoß den überraschend warmen Oktobermorgen und dachte eben über das alles nach. Er kam allmählich zu der Überzeugung, daß diese Nachrichten vielleicht so begierig aufgenommen wurden, weil sie nicht nur vom vergleichsweise modernen Konflikt zwischen Mensch und Maschine handelten, sondern vom seit urdenklichen Zeiten bestehenden, ewigen menschlichen Konflikt zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, zwischen Zivilisation und Wildheit, zwischen menschlichen Neigungen zu Glauben und Nihilismus.
Joel dachte immer noch darüber nach, als er aufstand und zu laufen anfing. Irgendwo unterwegs hörte er auf zu denken, schritt aber schneller aus.
Er war nicht allein. Andere von der Straßensperre, gut die Hälfte der zweihundert, die hier warteten, drehten sich fast gleichzeitig um und schritten zielstrebig über die Felder, sie zögerten nicht und machten keine Umwege, sondern schritten direkt über eine Wiese, über mit Sträuchern bewachsene Hügel und durch eine Baumgruppe hindurch.
Die Spaziergänger erschreckten diejenigen, die nicht den unvermittelten Ruf vernommen hatten, einen Spaziergang zu machen, ein paar Reporter liefen eine Zeitlang mit und stellten Fragen, schließlich brüllten sie Fragen. Keiner der Gehenden antwortete.
Joel war von dem Gefühl erfüllt, daß es einen Ort gab, wohin er gehen müßte, einen ganz besonderen Ort, wo er sich nie wieder um etwas Sorgen machen müßte, einen Ort, wo alles zur Verfügung gestellt würde, wo er sich keinen Ge -danken um die Zukunft machen müßte. Er wußte nicht, wie dieser wunderbare Ort aussah, aber er wußte, er würde ihn erkennen, wenn er ihn sah. Er eilte aufgeregt weiter, fasziniert, angezogen.
Gier.
Das gallertige Ding im Keller der Ikarus-Kolonie war im Griff der Gier. Es war nicht gestorben, als die anderen Kinder von Moonhawk verendet waren, denn der Mikrokugelcomputer in seinem Inneren hatte sich aufgelöst, als es erst-mals die Freiheit völliger Gestaltlosigkeit gesucht hatte; es hatte den über Mikrowelle ausgestrahlten Todesbefehl von Sonne nicht empfangen können. Und selbst wenn es den Befehl erhalten hätte, hätte es ihn nicht ausgeführt, denn die Kreatur im Keller hatte kein Herz, das stehenbleiben konnte.
Gier.
Seine Gier war so gewaltig, daß es pulsierte und sich wand. Diese Gier war umfassender als bloßes Verlangen und schrecklicher als alle Schmerzen.
Gier.
Überall auf seiner Oberfläche hatten sich Münder aufgetan. Das Ding rief mit einer Stimme in die Welt hinaus, die stumm wirkte, es aber nicht war, einer Stimme, die nicht zu den Ohren seiner Beute sprach, sondern in deren Köpfe hinein.
Und sie kamen.
Bald würde seine Gier gestillt werden.
Oberst Lewis Tarker, befehlshabender Offizier des Feldhauptquartiers der Armee im Park am Ostende der Ocean Avenue, erhielt einen dringenden Anruf von Sergeant Sperl-mont, der an der Straßensperre der Landstraße Wachdienst hatte. Sperlmont berichtete, er habe sechs seiner zwölf Männer verloren, die wie Zombies davongelaufen waren, zusammen mit Hunderten Reportern, die im selben seltsamen Zustand waren.
»Hier geht etwas vor«, sagte er zu Tarker. »Es ist noch nicht vorbei, Sir.«
Tarker rief augenblicklich Oren Westrom an, den FBI-Mann, der die Untersuchungen von Moonhawk leitete und mit dem sämtliche militärische Aspekte der Operation abgesprochen werden mußten.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Tarker zu Westrom. »Ich glaube, diese Spaziergänger sind noch unheimlicher, als Sperlmont sie beschrieben hat, auf eine Weise unheimlich, die er nicht vermitteln kann. Ich kenne ihn, und er hat mehr Angst als er selbst weiß.«
Westrom seinerseits befahl die JetRanger des Bureau in die Luft... Er erklärte dem Piloten Jim Lobbow die Situation und sagte: »Sperlmont wird ihnen ein paar seiner Leute am Boden nachschicken, um herauszufinden, wohin zum Teufel sie gehen - und warum. Aber ich möchte, daß Sie Luftüberwachung vornehmen, falls es Schwierigkeiten geben sollte.«
»Schon unterwegs«, sagte Lobbow.
»Haben Sie in letzter Zeit getankt?«
»Die Tanks sind randvoll.«
»Gut.«
Jim Lobbow gelang nichts, außer Helikopterfliegen.
Er war dreimal verheiratet gewesen, und jede Ehe war geschieden worden. Er hatte mit mehr Frauen zusammengelebt, als er zählen konnte; auch wenn ihn der Druck einer Ehe nicht belastete, gelang es ihm nicht, eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Er hatte ein Kind, einen Sohn, aus zweiter Ehe, aber er sah den Jungen nur dreimal im Jahr und nie länger als einen Tag. Er war zwar katholisch erzogen worden, und seine Geschwister besuchten regelmäßig die Messe, aber das klappte bei ihm auch nicht. Sonntag schien immer der einzige Tag zu sein, an dem er ausschlafen konnte, und wenn er überlegte, ob er unter der Woche den Gottesdienst besuchen sollte, schien ihm das immer zuviel Mühe zu sein. Er träumte davon, Unternehmer zu sein, aber jede kleine Firma, die er gründete, schien zum Scheitern verurteilt zu sein; er ließ sich immer wieder verblüffen, wieviel Arbeit ein Ge -schäft machte, sogar eines, das wie geschaffen schien, ohne den Chef zurechtzukommen, und früher oder später wurde es ihm immer zuviel Arbeit.