Schließlich sagte Sam: »Was treibst du heute abend?« »Ich habe Musik gehört.«
Manchmal glaubte Sam, daß die Musik teilweise dazu beigetragen hatte, den Jungen zu verderben. Dieser stampfende, frenetische, unmelodische Heavy Metal Rock war eine Sammlung monotoner Akkorde und noch monotonerer atonaler Riffs, so seelenlos und abstumpfend, daß es die Musik einer Zivilisation denkender Maschinen, lange nachdem die Menschheit von der Erde verschwunden war, hätte sein können.
Nach einer gewissen Zeit hatte Scott das Interesse an den meisten Heavy Metal Bands verloren und war zu U2 übergewechselt, aber deren simples soziales Bewußtsein war keine Konkurrenz für Nihilismus. Er interessierte sich bald wieder für Heavy Metal, aber diesmal Black Heavy Metal, die Bands, die mit Satanismus kokettierten oder dessen dramatisches Zubehör verwendeten; er wurde zunehmend verschlossener, gesellschaftsfeindlich und ernst. Sam hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, die Plattensammlung des Jungen zu konfiszieren, sie zu zerschmettern und wegzuwerfen, aber das schien eine absurde Übertreibung zu sein. Schließlich war Sam selbst sechzehn gewesen, als die Beatles und die Rolling Stones auf der Bildfläche erschienen waren, und seine Eltern hatten gegen diese Musik gewettert und vorhergesagt, daß sie Sam und seine ganze Generation in den Untergang führen würde. Und er war trotz John, Paul, George und Ringo und den Stones etwas geworden.
Er war ein Kind einer Zeit nie dagewesener Toleranz, und er wollte nicht so engstirnig werden, wie es seine Eltern gewesen waren.
»Ich gehe jetzt besser wieder«, sagte Sam.
Der Junge schwieg.
»Wenn sich unvorhergesehene Probleme ergeben, ruf deine Tante Edna an.«
»Sie kann nichts für mich tun, was ich nicht selbst könnte.«
»Sie hat dich gern, Scott.«
»Ja, klar.« »Sie ist die Schwester deiner Mutter; sie würde dich gerne wie ihren eigenen Sohn lieben. Du mußt ihr nur die Möglichkeit dazu geben.« Nach weiterem Schweigen holte Sam tief Luft und sagte: »Ich hab' dich auch gern, Scott.«
»Ja? Und was soll ich jetzt tun - vor Rührung zerfließen?« »Nein.«
»Tue ich auch nicht.«
»Ich habe nur gesagt, wie es ist.«
Der Junge zitierte offenbar einen seiner Lieblingssongs, als er sagte.
»Nichts währt ewig,
Auch Liebe ist eine Lüge,
Ein Werkzeug der Manipulation,
Im Himmel wohnt kein Gott.«
Klick.
Sam stand einen Augenblick da und hörte das Freizeichen an. »Perfekt.« Er legte den Hörer auf die Gabel.
Seine Frustration wurde nur noch von seiner Wut übertroffen. Er wollte etwas oder jemanden blutig schlagen und so tun, als würde er dasjenige oder denjenigen verprügeln, der ihm seinen Sohn genommen hatte.
Und er hatte ein leeres, schmerzliches Gefühl in der Magengegend, denn er hatte Scott wirklich gern. Die Entfremdung des Jungen war erschütternd.
Er wußte, er konnte jetzt noch nicht ins Motel zurückkehren. Er war noch nicht müde, und die Aussicht, ein paar Stunden vor der Verdummungskiste zu verbringen und dämliche Komödien oder Spielfilme anzusehen, war unerträglich.
Als er die Tür der Telefonzelle aufmachte, wirbelten Nebelschwaden herein und schienen ihn in die Nacht hinauszuziehen. Er schlenderte eine Stunde durch die Straßen von Moonlight Cove, tief in die angrenzenden Bezirke hinein, wo keine Straßenlaternen leuchteten und Bäume und Häuser im Nebel zu schweben schienen, als wären sie nicht fest mit dem Boden verankert, sondern nur lose angebunden und kurz davor, davonzuschweben.
Vier Blocks nördlich der Ocean Avenue, am Iceberry Way, schritt Sam heftig aus und reagierte seine Wut durch die Anstrengung und die Kälte ab, als er hastige Schritte hörte. Jemand lief. Drei Personen, vielleicht vier. Es war ein unmißverständliches Geräusch, aber seltsam verstohlen, nicht das deutliche Tapp-tapp-tapp von näher kommenden Joggern.
Er drehte sich um und sah die in Düsternis gehüllte Straße entlang.
Die Schritte verstummten.
Da der Mond von Wolken verdeckt war, wurde die Szenerie lediglich vom Licht erhellt, das aus den Fenstern von Häusern im bayerischen, englischen, spanischen und im Monterney-Stil fiel, welche sich auf beiden Seiten der Straße zwischen Pinien und Wacholderbüschen an die Hänge schmiegten. Das Viertel war alt und hatte seinen Reiz, aber da moderne Häuser mit großen Panoramafenstern fehlten, war alles noch dunkler. Zwei Anwesen des Viertels hatten eine indirekte, verkleidete Malibu-Beleuchtung, einige Kutschenlaternen am Ende von Wegen, aber der Nebel dämpfte deren Licht. Soweit Sam sehen konnte, war er allein auf dem Iceberry Way.
Er ging weiter, war aber noch keinen halben Block weit gekommen, als er die hastigen Schritte wieder hörte. Er wirbelte herum, sah aber wieder niemanden. Dieses Mal wurden die Schritte leiser, als wären die Läufer vom asphaltierten Weg auf weichen Erdboden getreten und dann zwischen zwei Häusern hindurch.
Vielleicht liefen sie auf einer anderen Straße. Nebel und Kälte konnten einem Streiche spielen.
Aber er war argwöhnisch und neugierig, daher trat er leise vom riesigen, aufgesprungenen Gehweg herunter, in einen Vorgarten und in die Schwärze einer ausladenen Zypresse. Er behielt die Gegend im Auge, und nach einer halben Minute sah er verstohlene Bewegungen an der Westseite der Straße. Vier schattenhafte Gestalten tauchten an einer Hausecke auf und eilten geduckt weiter. Als sie über einen Rasen schlichen, der stellenweise von Sturmlampen auf Eisenpfählen beleuchtet wurde, schnellten ihre verzerrten Schatten unbändig über die weiße Stuckfassade des Hauses.
Bevor er ihre Größe oder etwas anderes feststellen konnte, gingen sie wieder hinter dichtem Gebüsch in Deckung. Halbstarke, dachte Sam, die nichts Gutes im Schilde führen.
Er wußte nicht, weshalb er so sicher war, daß es sich um Halbstarke handelte; vielleicht, weil ihre Schnelligkeit und ihr Verhalten nicht zu Erwachsenen paßten. Entweder wollten sie einem verhaßten Nachbarn einen Streich spielen -oder sie waren hinter Sam her. Sein Instinkt sagte ihm, daß er verfolgt würde.
Konnten jugendliche Kriminelle in einer so kleinen und verschworenen Stadt wie Moonlight Cove ein Problem sein?
Es gab in jeder ein paar unartige Kinder. Aber in einer beinahe ländlichen Atmosphäre wie hier gehörten zur Jugendkriminalität selten Banden verbrechen wie Überfall, bewaffneter Raub, Diebstahl oder Totschlag. Auf dem Land hatten Halbstarke Ärger wegen schneller Autos, Alkohol, Mädchen und ein paar harmloser Diebstähle, aber sie streiften nicht als Banden durch die Straßen, wie ihre Altersgenossen in den Großstädten.
Dennoch begegnete Sam dem Quartett, das drei Häuser westlich von ihm auf der anderen Straßenseite in den Schatten hinter Farnen und Azaleen kauerte, mit Mißtrauen. Schließlich war etwas faul in Moonlight Cove, und die Probleme konnten durchaus etwas mit Jugendkriminalität zu tun haben. Die Polizei verheimlichte die Wahrheit über mehrere Todesfälle im Verlauf der letzten Monate, vielleicht schützten sie jemanden; so unwahrscheinlich es sich anhören mochte, vielleicht deckten sie ein paar Kinder reicher Familien, die die Privilegien ihrer Schicht zu weit getrieben und das zulässige zivilisierte Verhalten übertreten hatten.
Sam hatte keine Angst vor ihnen. Er wußte, wie er sich verhalten mußte, und er hatte seinen 38er dabei. Es hätte ihm sogar gefallen, den Bälgern eine Lektion zu erteilen. Aber ein Streit mit einer Jugendbande würde eine anschließende Begegnung mit der Polizei nach sich ziehen, und er zog es vor, nicht die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu lenken, um seine Ermittlungen nicht zu gefährden.