15
Der tote Junge lag in einem Abwasserkanal an der Landstraße südöstlich von Moonlight Cove. Sein frostweißes Gesicht war blutbefleckt. Seine aufgerissenen Augen sahen im Licht von zwei auf dreibeinigen Stativen stehenden Scheinwerfern der Polizei starr zu einem Ufer, das unendlich ferner war als das des nahen Pazifik.
Loman Watkins, der neben einem der Scheinwerfer stand, sah auf den kleinen Leichnam hinab und zwang sich, den Tod von Eddie Valdoski zu begreifen, denn Eddie, der erst acht Jahre alt gewesen war, war sein Patenkind. Loman war mit George, Eddies Vater, in die High School gegangen, und er hatte Eddies Mutter, Nella, auf eine rein platonische Weise fast zwanzig Jahre lang geliebt. Eddie war ein prächtiger Junge gewesen, klug und wißbegierig und wohlerzogen. War gewesen. Und jetzt... Gräßlich verstümmelt, wild gebissen, zerkratzt und zerfetzt, und mit gebrochenem Genick, war der Junge wenig mehr als ein Haufen verwesender Abfall, sein vielversprechendes Potential war vernichtet, die Flamme ausgepustet, man hatte ihm das Leben genommen -und ihn dem Leben.
Loman hatte in einundzwanzig Jahren Polizeidienst viel Schreckliches gesehen, aber dies war wahrscheinlich das Schlimmste. Und er hätte aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu dem Opfer völlig erschüttert und am Boden zerstört sein müssen. Doch der Anblick des kleinen, verstümmelten Leichnams berührte ihn kaum. Trauer, Bedauern, Wut und eine Vielzahl andere Empfindungen erfüllten ihn, aber nur leicht und kurz, so wie ein unsichtbarer Fisch im dunklen Meer an einem Schwimmer vorbeiziehen mochte. Kummer, der ihn wie Nägel hätte durchbohren sollen, verspürte er keinen.
Barry Sholnick, ein neuer Beamter der kürzlich erst erweiterten Polizei von Moonlight Cove, kauerte über dem Graben, einen Fuß auf jeder Seite, und machte ein Foto von Eddie Valdoski. Einen Moment spiegelte sich die silberne Reflektion des Blitzlichts in den starren Augen des Jungen. Lomans zunehmendes Unvermögen, etwas zu empfinden, war seltsamerweise das einzige, das starke Empfindungen in ihm hervorrief. Es machte ihm eine Heidenangst. Seine Unfähigkeit, Gefühle zu erzeugen, machte ihm in letzter Zeit zunehmend zu schaffen; es war eine unerwünschte, aber offenbar unumkehrbare Verhärtung des Herzens, die seinen Herzvorhof bald in Marmor und die Herzkammern in gewöhnlichen Stein verwandeln würde.
Er gehörte jetzt zu den Neuen Menschen und unterschied sich in vieler Hinsicht von dem Mann, der er einst gewesen war. Er sah immer noch gleich aus - einsfünfundsiebzig, untersetzt, ein für einen Mann in seinem Beruf ungewöhnlich breites und unschuldiges Gesicht -, aber er war nicht nur das, was er zu sein schien. Vielleicht war bessere Beherrschung der Gefühle, eine stabilere und analytischere Denkweise der unvorhergesehene Vorteil der Veränderung. Aber war es wirklich ein Vorteil? Keine Gefühle? Keine Trauer?
Die Nacht war zwar kalt, dennoch brach ihm auf Gesicht, den Handrücken und unter den Achseln saurer Schweiß aus.
Dr. Jan Fitzgerald, der Gerichtsmediziner, war anderswo beschäftigt, aber Victor Callan, der Inhaber von Callans Bestattungsunternehmen und stellvertretender Gerichtsmediziner, half einem anderen Beamten, Jules Timmermann, den Boden zwischen dem Graben und dem nahe gelegenen Wald abzusuchen. Sie suchten nach Spuren, die der Killer hinterlassen haben konnte.
Dabei spielten sie den Anwohnern der Gegend, die sich auf der anderen Straßenseite versammelt hatten, nur etwas vor. Selbst wenn Spuren gefunden würden, würde niemand für dieses Verbrechen verhaftet werden. Es würde nie zu einer Verhandlung kommen. Wenn sie Eddies Mörder fänden, würden sie ihn verstecken und sich auf ihre Weise um ihn kümmern, damit sie die Existenz der Neuen Menschen vor denen geheimhalten konnten, die die Verwandlung noch nicht hinter sich gebracht hatten. Denn der Killer war zweifellos einer von denen, die Thomas Shaddack >Regressive< nannte; einer der Neuen Menschen, die böse geworden waren. Sehr böse.
Loman wandte sich von dem toten Jungen ab. Er schritt die Landstraße entlang zum Haus der Valdoskis, das sich ein paar hundert Meter nördlich befand und von Nebel verhüllt war.
Er achtete nicht auf die Schaulustigen, obwohl ihm einer von ihnen zurief: »Chief? Was, zum Teufel, ist denn da los, Chief?«
Dies war eine ländliche Gegend, die gerade noch zur Gemarkung der Stadt gehörte. Die Häuser hier standen vereinzelt, ihre verstreuten Lichter vermochten die Nacht nicht zurückzudrängen. Er fühlte sich isoliert, bevor er den halben Weg zum Valdoski-Haus zurückgelegt hatte, obwohl er noch in Rufweite der Männer am Ort des Verbrechens war. Bäume, die von jahrhundertelangem Wind vom Meer in unruhigeren Nächten als dieser gepeinigt worden waren, beugten sich zur Straße, ihre verkrümmten Zweige hingen über den Schotterstreifen, auf dem er ging. Er bildete sich Bewegungen in den dunklen Ästen über ihm und in der Schwärze und dem Nebel zwischen den gekrümmten Baumstämmen ein.
Er legte die Hand auf den Griff des Revolvers im Seitenhalfter.
Loman Watkins war seit neun Jahren Polizeichef von Mo-onlight Cove, und in seinem Bezirk war im Verlauf des vergangenen Monats mehr Blut vergossen worden als in den vorhergehenden acht Jahren und elf Monaten. Er war davon überzeugt, daß es noch schlimmer kommen würde. Er hatte so eine Ahnung, als wären die Regressiven zahlreicher und ein größeres Problem als Shaddack klar war - oder er zugeben wollte.
Er fürchtete die Regressiven fast ebensosehr, wie er seine eigene neue, kalte und teilnahmslose Denkweise fürchtete. Angst war, anders als Glück und Trauer und Freude und Kummer, ein Überlebensmechamsmus, daher würde er zu ihr möglicherweise nicht so sehr den Zugang verlieren als zu anderen Empfindungen. Dieser Gedanke machte ihn so unbehaglich wie die eingebildeten Bewegungen in den Bäumen. Ist die Angst, fragte er sich, die einzige Empfindung in dieser schönen neuen Welt, die wir erschaffen?
16
Nach einem fettigen Cheeseburger, öligen Pommes frites und einer eiskalten Flasche Dos Equis in der verlassenen Cafeteria des Cove Lodge begab sich Tessa Lockland wieder in ihr Zimmer, setzte sich, von Kissen gestützt, aufs Bett und rief ihre Mutter in San Diego an. Marion nahm den Hörer nach dem ersten Läuten ab, und Tessa sagte: »Hi, Mom.«
»Wo bist du, Teejay?« Als Kind hatte sich Tessa nie entscheiden können, ob sie mit ihrem ersten oder zweiten Vornamen gerufen werden wollte, nämlich Jane, daher hatte ihre Mutter sie stets mit den Initialen gerufen, als wären sie der Name selbst.
»Cove Lodge«, sagte Tessa.
»Hübsch?«
»Das Beste, was ich finden konnte. Dies ist keine Stadt, die Wert auf erstklassige Touristeneinrichtungen legt. Wenn die wunderschöne Aussicht nicht wäre, würde das Cove Lodge zu den Hotels gehören, die nur überleben, weil sie im Fernsehen hausinterne Pornofilme zeigen und Zimmer stundenweise vermieten.«
»Ist es sauber?«
»Ausreichend.«
»Wenn es nicht sauber wäre, würde ich darauf bestehen, daß du sofort anderswo hinzögest.«
»Mom, du weißt doch, wenn ich unterwegs bin und einen Film drehe, bin ich auch nicht immer luxuriös untergebracht. Als ich den Dokumentarfilm über die Meskitoindia-ner in Mittelamerika gemacht habe, bin ich mit ihnen auf die Jagd gegangen und habe im Schlamm geschlafen.«
»Teejay, Liebes, du darfst nie jemandem sagen, daß du im Schlamm geschlafen hast. Schweine schlafen im Schlamm. Du mußt sagen, daß du gezeltet oder gecampt hast, aber niemals, daß du im Schlamm geschlafen hast. Auch unangenehme Erlebnisse können sich lohnen, wenn man seine Würde und seinen Stil dabei nicht vergißt.«