Da sich nichts bewegte, lief sie schließlich zu den Felsen und umkreiste sie einmal. Am Ansatz der Formation und in den Klüften im Fels waren ein paar samtweiche Schatten, aber der größte Teil lag im milchigen, schimmernden Mondschein, und dort war kein Tier zu sehen.
Sie dachte niemals ernsthaft an die Möglichkeit, daß sie etwas anderes als einen Läufer oder ein Tier gesehen haben, daß sie sich in echter Gefahr befinden könnte. Abgesehen von gelegentlichen Vorfällen von Vandalismus oder Einbrüchen - die immer auf das Konto eines oder mehrerer frustrierter Halbwüchsiger gingen - und Verkehrsunfällen, war die hiesige Polizei weitgehend beschäftigungslos. Verbrechen an Personen - Vergewaltigungen, Überfälle, Mord -waren in einer so kleinen und verschworenen Gemeinde wie Moonlight Cove selten; es war fast, als lebten sie an diesem Strandabschnitt in einem anderen, gnädigeren Zeitalter als der Rest von Kalifornien.
Als sie die Formation umkreist hatte und zu dem festen Sand nahe der schäumenden Brandung zurückkehrte, war Janice zu der Überzeugung gekommen, daß sie sich vom Mondschein und dem Nebel - zwei geschickten Täuschern -hätte narren lassen. Sie hatte sich die Bewegung nur eingebildet; sie war allein am Strand.
Sie stellte fest, daß der Nebel immer dichter wurde, aber sie lief dennoch weiter am sichelförmigen Strand entlang zur Südspitze der Bucht. Sie war sicher, daß sie dorthin gelangen und zur Ocean Avenue zurückkehren konnte, bevor die Sichtverhältnisse allzu schlecht wurden.
Wind kam auf und wehte übers Meer; er wirbelte den Nebel durcheinander, der sich von gazeartigem Dunst zu weißen Schlieren zu verfestigen schien, als wäre er Milch, die zu Butter gestampft wird. Als Janice das südliche Ende des schmäler werdenden Strands erreicht hatte, wehte der Wind heftiger, die Gischt war ebenfalls lebhafter, schäumende Schleier wurden aufgewirbelt, wenn Wellen auf den gemauerten, künstlichen Wellenbrecher brandeten, der als Erweiterung der natürlichen Landzunge erbaut worden war.
Jemand stand auf dieser fünf Meter hohen Mauer und sah zu ihr herunter. Janice sah auf, als sich eine Nebelschwade verzog und der Umriß im Mondlicht zu erkennen war.
Jetzt bekam sie Angst.
Der Fremde befand sich zwar direkt vor ihr, aber sie konnte sein Gesicht im Halbdunkel nicht sehen. Er schien groß zu sein, über einen Meter achtzig, aber das konnte auch eine Täuschung der Perspektive sein.
Abgesehen von seinem Umriß waren nur seine Augen zu erkennen, und diese erfüllten sie mit Angst. Sie leuchteten weich wie Bernstein, wie die Augen eines Tiers in Scheinwerfern.
Als sie direkt zu ihm aufsah, schlug sein Blick sie einen Moment in den Bann. Er war vom Mond beleuchtet, ragte über ihr auf, groß und reglos auf Mauersteinen, während Gischt rechts und links von ihm explodierte, er hätte ein aus Stein gehauenes Götzenbild mit Juwelen als Augen sein können, das von einem dämonenanbetenden Kult in einem längst vergangenen dunklen Zeitalter errichtet worden war. Janice wollte sich umdrehen und weglaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen, sie schien am Strand festgewachsen und befand sich im Griff einer lähmenden Angst, wie sie sie bis -her nur in Alpträumen gekannt hatte.
Sie fragte sich, ob sie wach wäre. Vielleicht war ihr mitternächtlicher Lauf tatsächlich Teil eines Alptraums, vielleicht lag sie in Wirklichkeit wohlbehalten unter warmen Decken schlafend im Bett.
Dann gab der Mann ein eigentümliches, leises Knurren von sich, teilweise ein zorniges Fauchen, aber auch ein Zischen; teilweise ein heißer, drängender Schrei des Verlangens, aber gleichzeitig kalt, kalt.
Dann bewegte er sich.
Er ließ sich auf alle viere nieder und kam den hohen Wellenbrecher herunter, aber nicht wie ein gewöhnlicher Mensch die unebenen Steine heruntergekommen wäre, sondern mit katzenhafter Schnelligkeit und Anmut. Sekunden, dann würde er bei ihr sein.
Janice riß sich aus der Lähmung, drehte sich in ihren Fußstapfen um und lief zum öffentlichen Strandabschnitt zurück - der eine ganze Meile entfernt war. Häuser mit erleuchteten Fenstern standen auf der steilen Klippe, die über die Bucht aufragte, von einigen verliefen Treppen zum Meer herab, aber sie traute sich nicht zu, diese Treppen in der Dunkelheit zu finden. Sie verschwendete keine Energie für einen Schrei, denn sie bezweifelte, daß sie jemand hören würde. Wenn der Schrei sie verlangsamte, und seien es nur Sekundenbruchteile, würde sie vielleicht überwältigt und zum Schweigen gebracht, bevor jemand aus dem Ort auf ihre Schreie reagieren könnte.
Ihre zwanzigjährige Hingabe an das Laufen war noch nie so wichtig gewesen wie in diesem Augenblick; es ging nicht mehr um ihre Gesundheit, das spürte sie, sondern um ihr Leben. Sie preßte die Arme fest an die Seiten, senkte den Kopf, sprintete, mehr auf Schnelligkeit denn Ausdauer bedacht, weil sie sich dachte, daß sie nur bis zum ersten Block der Ocean Avenue kommen mußte, um in Sicherheit zu sein. Sie glaubte nicht, daß der Mann - oder was, zum Teufel, es auch war - sie bis auf die beleuchtete, bevölkerte Straße verfolgen würde.
Schnelle Wolkenstreifen huschten über einen Teil des Mondgesichts. Das Mondlicht wurde düster, heller, düster und wieder heller, ein ungleichmäßiger Rhythmus, der durch den zunehmend dichter werdenden Nebel pulsierte und so einen Schwärm Phantome erzeugte, die sie wiederholt erschreckten und scheinbar auf allen Seiten mit ihr Schritt zu halten schienen. Das unheimliche, pulsierende Licht trug seinen Teil zum traumartigen Charakter der Verfolgungsjagd bei, und sie war halb davon überzeugt, daß sie tatsächlich im Bett lag und fest schlief, aber sie blieb dennoch nicht stehen, um über die Schulter zu sehen, denn Traum oder nicht, der Mann mit den Bernsteinaugen war immer noch hinter ihr her.
Sie hatte die halbe Strecke zwischen der Spitze der Bucht und der Ocean Avenue hinter sich gebracht, und ihre Zuversicht wuchs mit jedem Schritt, als ihr klar wurde, daß zwei der Phantome im Nebel gar keine Phantome waren. Einer war etwa sechs Meter rechts von ihr und lief aufrecht wie ein Mensch; das andere war links, weniger als fünfzehn Schritte entfernt, es platschte auf allen vieren durch die schaumige Spitzendecke der Gischt, so groß wie ein Mensch, aber eindeutig kein Mensch, denn kein Mensch konnte in der Haltung eines Hundes so flink und behende sein. Sie hatte nur einen allgemeinen Eindruck von Gestalt und Größe, und von ihren Gesichtern konnte sie außer den seltsam leuchtenden Augen keinerlei Einzelheiten erkennen.
Sie wußte irgendwie, daß keines dieser Wesen der Mann war, den sie auf dem Wellenbrecher gesehen hatte. Er war hinter ihr und lief entweder aufrecht oder eilte auf allen vieren. Sie war beinahe umzingelt.
Janice unternahm keinen Versuch sich vorzustellen, was sie sein mochten. Die Analyse dieses unheimlichen Erlebnis -ses mußte auf später verschoben werden; vorerst akzeptierte sie einfach die Existenz des Unmöglichen, denn als Witwe eines Priesters und zutiefst gläubige Frau besaß sie die Fähigkeit, das Unbekannte und Überirdische zu akzeptieren, wenn sie damit konfrontiert wurde.
Sie ließ sich von der Angst antreiben, die sie zuvor gelähmt hatte, und lief schneller. Aber ihre Verfolger ebenfalls.
Sie hörte ein eigentümliches Wimmern und merkte erst allmählich, daß sie ihre eigene gequälte Stimme hörte.
Die Phantomgestalten rings um sie herum wurden von ihrer Angst offensichtlich erregt und fingen an zu plärren. Ihre Stimmen schwollen an und ab, bewegten sich zwischen schrillem, gedehntem Winseln und kehligem Knurren. Am schlimmsten aber war, daß diese heulenden Laute von einzelnen, hastig und drängend gesprochenen Worten kontra-punktiert wurden: »Schnappt das Flittchen, schnappt das Flittchen, schnappt das Flittchen...«