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Was, in Gottes Namen, waren sie? Sicher keine Menschen, dennoch konnten sie wie Menschen aufrecht stehen und sprechen; was also konnten sie anderes sein als Menschen?

Janice spürte, wie sich das Herz in ihrer Brust ausdehnte und heftig schlug.

»Schnappt das Flittchen...«

Die geheimnisvollen Gestalten, die sie flankierten, kamen langsam näher, und sie versuchte, schneller zu laufen, um ihnen zu entkommen, aber sie ließen sich nicht abschütteln. Sie überbrückten die Entfernung allmählich. Sie konnte sie dicht neben sich erkennen, wagte aber nicht, sie direkt anzusehen, weil sie fürchtete, ihr Anblick könnte sie so sehr erschrecken, daß sie wieder gelähmt sein und starr vor Entsetzen niedergerissen werden könnte.

Sie wurde auch so niedergerissen. Etwas sprang sie von hinten an. Sie stürzte, eine gewaltige Last drückte sie nieder, und alle drei Kreaturen schwärmten über sie, berührten sie und zerrten an ihrer Kleidung.

Dieses Mal verdeckten Wolken den größten Teil des Mondes, Schatten fielen wie Fetzen eines Himmels aus schwarzem Tuch.

Janices Gesicht wurde fest in den feuchten Sand gedrückt, aber ihr Kopf war zur Seite gedreht, der Mund frei, daher konnte sie endlich schreien, auch wenn es kein sehr lauter Schrei wurde, weil sie völlig außer Atem war. Sie schlug um sich, trat aus, ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt, sie zu treffen, traf aber weitgehend Luft und Sand.

Jetzt konnte sie nichts mehr sehen, denn der Mond war vollkommen verdeckt.

Sie hörte Stoff reißen. Der Mann, der auf ihr saß, riß ihre Nike-Jacke herunter, zerfetzte den Stoff und zerkratzte ihr dabei die Haut. Sie spürte die heiße Berührung einer Hand, die rauh aber menschlich zu sein schien.

Er nahm sein Gesicht kurz von ihr, und sie schlängelte sich vorwärts und wollte entkommen, aber sie sprangen und stießen sie in den Sand. Dieses Mal war sie bei den Ausläufern der Wellen und hatte das Gesicht im Wasser.

Ihre Angreifer, die abwechselnd winselten, wie Hunde hechelten, zischten und knurrten, stießen hastige Worte hervor, während sie sie packten:

»...schnappt sie, schnappt sie, schnappt sie ...«

»...wollen, wollen es, wollen es ...«

»...jetzt, jetzt, schnell, jetzt schnell, schnell, schnell...«

Sie zerrten an ihrer Jogginghose und wollten sie ausziehen, aber sie war nicht sicher, ob sie sie vergewaltigen oder verschlingen wollten; vielleicht keins von beiden; was sie wollten, entzog sich ihrem Verständnis. Sie wußte nur, sie waren von einem überwältigend starken Bedürfnis überkommen worden, denn die kalte Nachtluft war ebenso stark von ihrem Verlangen wie von Nebel und Dunkelheit erfüllt. Einer drückte ihr Gesicht tiefer in den feuchten Sand, und jetzt war das Wasser rings um sie herum; es war nur Zentimeter tief, reichte aber aus, sie zu ertränken, und sie ließen sie nicht Atem holen. Sie wußte, sie würde sterben, sie wurde hilflos festgehalten, sie würde sterben, und das nur, weil sie gerne nachts lief.

2

Am Montag, dem 13. Oktober, zweiundzwanzig Tage nach dem Tod von Janice Capshaw, fuhr Sam Booker mit einem Mietwagen vom International Airport in San Francisco nach Moonlight Cove. Während der Fahrt spielte er ein grimmiges, aber auf finstere Weise amüsantes Spiel mit sich selbst, indem er sich im Geiste eine Liste der Gründe machte, warum er weiterleben sollte. Obwohl er länger als eine Stunde unterwegs war, fielen ihm nur vier Gründe ein: Guiness Stout, wirklich gutes mexikanisches Essen, Goldie Hawn und die Angst vor dem Sterben.

Das dunkle, starke irische Bier erfreute ihn immer wieder und ließ ihn vorübergehend das Elend der Welt vergessen. Restaurants, die ständig erstklassiges mexikanisches Essen anboten, waren schon ungleich schwerer zu finden als Gui-ness; dieser Trost war daher weniger häufig. Sam hatte sich schon vor langer Zeit in Goldie Hawn verliebt - besser gesagt, das Leinwandimage, das sie verkörperte -, weil sie schön und niedlich war, bodenständig und intelligent, und zudem schien ihr das Leben so verdammt viel Spaß zu machen. Seine Chancen, Goldie Hawn kennenzulernen, standen etwa eine millionmal schlechter als die, in einer nordkalifornischen Küstenstadt wie Moonlight Cove ein erstklassiges mexikanisches Restaurant zu finden; daher war er froh, daß sie nicht der einzige Grund zum Weiterleben war.

Als er sich seinem Ziel näherte, drängten sich hohe Pinien und Zypressen am Highway l, bildeten einen graugrünen Tunnel und warfen im spätnachmittäglichen Sonnenschein lange Schatten. Der Tag war wolkenlos und dennoch seltsam bedrohlich; der Himmel war hellblau und trotz seiner kristallenen Klarheit kahl, ganz anders als das tropische Blau, an das er in Los Angeles gewöhnt war. Die Temperatur lag zwar um die dreißig Grad, doch der grelle Sonnenschein, der einem von einer Eisfläche reflektierten Schimmer glich, schien die Farben der Landschaft einzufrieren und sie mit einem Hauch imitierten Frosts trübe zu machen.

Angst vor dem Sterben. Das war der beste Grund auf seiner Liste. Er war erst zweiundvierzig Jahre alt - einsachtundsiebzig groß, achtzig Kilo, momentan gesund -, dennoch war Sam Booker schon sechsmal am Ufer des Todes entlanggeschlittert, hatte in die Gewässer darunter gesehen und festgestellt, daß der Sprung hinein nicht einladend war.

An der rechten Seite des Highways tauchte ein Hinweisschild auf: OCEAN AVENUE, MOONLIGHT COVE, 2 MEILEN.

Sam fürchtete nicht die Schmerzen des Sterbens, denn die würden binnen eines Augenblicks vorbei sein. Er hatte auch keine Angst davor, sein Leben unvollendet zurückzulassen; er hatte seit mehreren Jahren keine Ziele oder Hoffnungen oder Träume mehr, er mußte nichts vollenden, nichts besaß Bedeutung oder Wichtigkeit. Aber er hatte Angst davor, was nach dem Leben kam.

Vor fünf Jahren hatte er mehr tot als lebendig auf einem Operationstisch beinahe ein Sterbeerlebnis gehabt. Während sich die Ärzte hektisch bemüht hatten, ihn zu retten, war er aus seinem Körper emporgestiegen und hatte von der Decke auf seinen Leichnam und das Ärzteteam, das ihn umringte, hinabgesehen. Dann war er plötzlich durch einen Tunnel gerast, auf grelles Licht zu, auf die andere Seite zu: das vollständige Sterbeklischee, wie man es auf den Titelseiten der Regenbogenpresse im Supermarkt immer wieder finden konnte. Der geschickte Arzt hatte ihn im allerletzten Augenblick ins Land der Lebenden zurückgezogen, aber erst, nachdem er einen Blick auf das geworfen hatte, was sich am Ende des Tunnels befand. Was er gesehen hatte, erfüllte ihn mit Entsetzen. Das Leben war, wenn auch manchmal grausam, dem vorzuziehen, was seiner Meinung nach danach folgte.

Er kam zur Ausfahrt Ocean Avenue. Am unteren Ende der Rampe, wo sich die Ocean Avenue unter dem Pacific Coast Highway nach Westen erstreckte, kam ein weiteres Schild: MOONLIGHT COVE y2 MEILE.

Ein paar Häuser standen in purpurner Düsternis zwischen den Bäumen auf beiden Seiten der zweispurigen Asphaltstraße; die Fenster waren schon eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gelb erleuchtet. Einige waren in dem bayerischen Stil erbaut, der nach Meinung einiger Bauherrn der vierziger und fünfziger Jahre mit der nordkalifornischen Küstenlandschaft harmonierte - Fachwerk und tief gezogene Giebel. Andere waren Bungalows im Monterey-Stil mit wie-ßen Verschalungsbrettern oder schindelverkleideten Mauern und üppigen architektonischen Verzierungen in einem Märchen-Rokoko-Stil. Da Moonlight Cove erst in den zurückliegenden zehn Jahren gewachsen war, waren viele Häuser anmutige, moderne Bauwerke mit zahlreichen Fenstern, die an von einer unvorstellbaren Flut an Land geschleuderte Schiffe erinnerten, die auf den Klippen über dem Meer gestrandet waren.