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Als Sam der Ocean Avenue in das sechs Blocks lange Geschäftsviertel folgte, überkam ihn sofort ein seltsames Ge -fühl, daß etwas nicht stimmte. Geschäfte, Restaurants, Tavernen, ein Markt, zwei Kirchen, die Stadtbücherei, ein Kino und andere gewöhnliche Einrichtungen befanden sich entlang der Hauptstraße, die sich bis zum Meer hinab erstreckte, aber für Sam hatte die Gemeinde etwas undefinierbares, aber überwältigend Seltsames an sich, und er erschauerte.

Er konnte diese ablehnende Reaktion auf den Ort nicht exakt begründen, aber sie war höchstwahrscheinlich auf das ernste Spiel von Licht und Schatten zurückzuführen. Im freudlosen Sonnenschein des sterbenden Herbsttages sah die aus grauem Stein erbaute katholische Kirche wie eine fremde Stahlkonstruktion aus, die nicht für menschliche Zwecke geschaffen worden zu sein schien. Ein weißgetünchter, stuckverzierter Spirituosenladen sah aus, als bestünde er aus im Lauf der Zeit gebleichten Knochen. Viele Schaufenster waren vom grauen Star gespiegelten Lichts der Sonne befallen, die dem Horizont entgegensank, als wären sie bemalt worden, um die Aktivitäten derjenigen, die dahinter arbeiteten, zu verbergen. Die Schatten, welche von Häusern, Pinien und Zypressen geworfen wurden, waren pechschwarz, kantig und rasiermesserscharf.

Sam bremste vor der Ampel an der dritten Kreuzung, auf halbem Weg durch das Geschäftsviertel. Da hinter ihm kein Verkehr wartete, ließ er sich Zeit, die Leute auf den Gehwegen zu studieren. Es waren nicht viele zu sehen, acht oder zehn, doch auch sie machten ihn mißtrauisch, obwohl die Gründe, weshalb er ihnen gegenüber gemischte Gefühle hegte, nicht so greifbar waren wie jene, die seine Vorbehalte gegenüber dem Ort selbst hervorriefen. Sie schritten stramm und zielstrebig dahin, hatten die Köpfe erhoben und eine Aura des Zeitdrucks um sich, die nicht zu einer entspannten Strandsiedlung mit nur dreitausend Seelen zu passen schien.

Er seufzte und fuhr weiter die Ocean Avenue entlang, wobei er sich sagte, daß seine Fantasie mit ihm durchging. Moonlight Cove und seine Einwohner hätten wahrschein -lich nicht im mindesten seltsam gewirkt, wäre er nur auf der Durchreise gewesen und von der Küstenstraße abgebogen, um in einem hiesigen Restaurant zu essen. Aber er war schon mit dem Wissen hergekommen, daß hier etwas faul war, daher war es kein Wunder, daß er selbst in einer vollkommen unschuldigen Szene düstere Zeichen erblickte. Jedenfalls sagte er das zu sich selbst. Aber er wußte es besser.

Er war nach Moonlight Cove gekommen, weil hier Menschen gestorben waren, weil die offiziellen Angaben zu den Todesursachen verdächtig waren und er eine Ahnung hatte, daß die Wahrheit, war sie erst auf gedeckt, außergewöhnlich beunruhigend sein würde. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, auf diese Ahnungen zu achten; das hatte ihn am Leben gehalten.

Er parkte den gemieteten Ford vor einem Geschenkartikelladen.

Im Westen sank die blutarme Sonne am äußersten Rand des schiefergrauen Meeres durch einen Himmel, der langsam düster rot wurde. Tentakelgleiche Nebelschwaden stiegen langsam von dem bewegten Meer empor.

3

Chrissie Fester, die in der Speisekammer neben der Küche saß und den Rücken an ein Regal voll Konservendosen lehnte, sah auf die Uhr. Sie sah im schroffen Licht der Glühbirne, die nackt in einer Fassung an der Decke hing, daß sie jetzt fast neun Stunden in der winzigen, fensterlosen Kammer eingesperrt war. Sie hatte die Armbanduhr zu ihrem elften Geburtstag bekommen, also vor mehr als vier Monaten, und sie hatte ihr gefallen, weil es keine Kinderuhr mit auf dem Zifferblatt aufgemalten Comicfiguren war; es war eine zierliche, damenhafte, vergoldete Armbanduhr mit römischen Ziffern statt Zahlen, eine echte Timex, wie ihre Mutter eine trug. Als sie sie betrachtete, wurde Chrissie von Traurigkeit überkommen. Die Uhr repräsentierte eine Zeit des Glücks und der Familienzusammengehörigkeit, die für immer dahin war.

Davon abgesehen, daß sie sich traurig, einsam und nach der stundenlangen Gefangenschaft unruhig fühlte, hatte sie auch Angst. Sie hatte selbstverständlich nicht so sehr Angst wie heute morgen, als ihr Vater sie durch das Haus getragen und in die Vorratskammer geworfen hatte. Da hatte sie um sich getreten und gekreischt und war entsetzt über das gewesen, was sie gesehen hatte. Über das, was aus ihren Eltern geworden war. Doch dieses weißglühende Entsetzen hatte sich nicht halten können; es war allmählich zu einem unterschwelligen Fieber der Angst geworden, durch das sie sich gleichzeitig heiß und kalt fühlte, unwohl und mit Kopfschmerzen, als befände sie sich im Anfangsstadium einer Erkältung.

Sie fragte sich, was sie mit ihr anstellen würden, wenn sie sie schließlich aus der Vorratskammer holten. Nun, eigentlich fragte sie sich gar nicht, was sie mit ihr anstellen würden, weil sie ziemlich sicher war, daß sie die Antwort darauf bereits wußte: Sie würden sie zu einer von ihnen machen. Sie fragte sich eigentlich nur, wie die Verwandlung bewerkstelligt werden würde - und was gmau sie werden würde. Sie wußte, ihre Mutter und ihr Vater waren keine gewöhnlichen Menschen mehr, sie waren etwas anderes, aber sie konnte mit Worten nicht beschreiben, was sie geworden waren.

Ihre Angst wurde noch von der Tatsache gesteigert, daß ihr auch die Worte fehlten, sich selbst zu erklären, was in ihrem eigenen Zuhause vor sich ging, denn sie hatte Worte schon immer gemocht und auf ihre Macht vertraut. Sie las einfach alles: Gedichte, Kurzgeschichten, Romane, die Tageszeitung, Zeitschriften und die Rückseiten von Frühstücksflockenkartons, wenn nichts anderes zur Verfügung stand. In der Schule war sie in der sechsten Klasse, aber Mrs. Tokawa, ihre Lehrerin, sagte, sie könne lesen wie eine Zehntkläßlerin. Wenn sie nicht las, schrieb sie manchmal selbst Kurzgeschichten. Sie hatte sich im Lauf des vergangenen Jahres entschieden, daß sie, wenn sie groß geworden war, selbst Romane schreiben wollte, wie die von Mr. Paul Zindel oder die tollen, etwas albernen von Mr. Daniel Pink-water, oder, am allerbesten, die von Ms. Andre Norton.

Aber jetzt halfen Worte nichts mehr; ihr Leben würde völlig anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Der Verlust der behaglichen Bilderbuchzukunft, die sie vorausgesehen hatte, machte ihr ebenso Angst wie die Veränderungen, die mit ihren Eltern vonstatten gegangen waren. Chrissie war acht Monate vor ihrem zwölften Geburtstag nachdrücklich auf die Unsicherheiten des Lebens aufmerksam gemacht worden, ein grimmiges Wissen, auf das sie nur unzulänglich vorbereitet war.

Nicht, daß sie schon aufgegeben hätte. Sie wollte kämpfen. Sie wollte sich nicht ohne Widerstand von ihnen verwandeln lassen. Kurz nachdem sie in die Vorratskammer geworfen worden war, als die Tränen getrocknet waren, hatte sie sich umgesehen, was die Regale enthielten, um eine Waffe zu haben. Die Kammer enthielt größtenteils Nahrungsmittel in Dosen, Flaschen oder Kartons, aber auch Wäsche und Arzneimittel und Haushaltwaren. Sie hatte etwas Perfektes gefunden: eine kleine Sprühdose WD-40, ein Schmiermittel auf Ölbasis. Sie war kaum ein Drittel so groß wie eine gewöhnliche Sprühdose und ließ sich mühelos verstecken. Wenn sie sie überraschen, es ihnen in die Augen sprühen und sie vorübergehend blenden könnte, gelänge ihr vielleicht die Flucht.

Sie sagte, als würde sie eine Zeitungsschlagzeile lesen: »Einfallsreiches junges Mädchen rettet sich selbst mit gewöhnlichen Haushaltsschmiemittel.«

Sie hielt das WD-40 in beiden Händen, weil es ihr Zuversicht gab.

Hin und wieder tauchte eine beunruhigende Erinnerung auf; das Gesicht ihres Vaters, wie es ausgesehen hatte, als er sie in die Kammer warf - rot und aufgedunsen und wütend, dunkle Ringe unter den Augen, geblähte Nasenflügel, zu einem Fauchen über die Zähne zurückgezogene Lippen, sämtliche Gesichtszüge vor Wut verzerrt. »Ich komme wieder zu dir«, hatte er gesagt und beim Sprechen gesabbert. »Ich komme wieder.«