Tessa saß hinter Sam auf dem Bettrand und tätschelte Moose, der den Kopf in ihrem Schoß liegen hatte.
Harry saß daneben im Rollstuhl. Er aß beim Licht einer Taschenlampe in einem spiralgebundenen Notizbuch, in dem er sich Aufzeichnungen über die außergewöhnlichen Vorgänge im Krematorium gemacht hatte.
»Das erste - jedenfalls das erste ungewöhnliche Ereignis, das mir auffiel -, war in der Nacht des achtundzwanzigsten August«, sagte Harry. »Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Sie brachten vier Leichen auf einmal mit dem Leichenwagen des städtischen Krankenhauses. Mit Polizeibegleitung. Die Leichen waren in Plastiksäcken, daher konnte ich sie nicht sehen, aber die Polizisten und Arzthelfer und die Leute von Callan waren deutlich zu sehen... und... nun, aufgeregt. Das habe ich in ihren Gesichtern gesehen. Und Angst. Sie sahen sich immer zu den benachbarten Häusern und dem Weg hin um, als fürchteten sie, jemand könnte sie dabei beobachten, was sie taten - was seltsam war, weil sie doch nur ihre Pflicht taten, oder nicht? Wie dem auch sei, später las ich in der. Lokalzeitung, daß die Familie Mayser bei einem Brand ums Leben gekommen war, und da wußte ich, daß sie in jener Nacht zu Callan gebracht worden waren. Ich nehme an, sie sind ebensowenig bei einem Brand gestorben, wir Ihre Schwester Selbstmord begangen hat.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Tessa.
Sam, der immer noch den Hinterhof des Bestattungsinstituts beobachtete, sagte: »Die Maysers habe ich auf meiner Liste. Sie kamen bei den Ermittlungen im Fall Bustamente-Sanchez ans Licht.«
Harry räusperte sich und sagte: »Sechs Tage später, am dritten September, wurden kurz nach Mitternacht zwei Leichen zu Callan gebracht. Das war noch seltsamer, denn sie kamen nicht mit dem Leichen- oder Krankenwagen. Zwei Polizeiautos fuhren hinter dem Institut auf, und sie luden vom Rücksitz eines jeden einen Leichnam aus; beide waren in blutige Laken gewickelt.«
»Am dritten September?« sagte Sam. »An diesem Datum habe ich niemanden auf meiner Liste. Sanchez und die Bus-tamentes waren am fünften. Am dritten wurden keine Totenscheine ausgestellt. Diesen beiden tauchten nie in den offiziellen Unterlagen auf.«
»Auch in der Lokalzeitung stand nichts darüber, daß jemand gestorben wäre«, sagte Harry.
Tessa sagte: »Also wer waren diese beiden Menschen?«
»Vielleicht waren sie von außerhalb und hatten das Pech, daß sie in etwas Gefährliches hineingestolpert sind«, sagte Sam. »Menschen, deren Tod vollkommen vertuscht werden konnte, damit niemand erfährt, wo sie gestorben sind. Sie verschwanden einfach irgendwo unterwegs.«
»Sanchez und die Bustamentes starben in der Nacht des fünften«, sagte Harry, »und dann Jim Armes in der Nacht des siebten.«
»Armes verschwand auf dem Meer«, sagte Sam, sah vom Teleskop auf und betrachtete den Mann im Rollstuhl stirnrunzelnd.
Sie haben den Leichnam nachts um elf zu Callan gebracht«, sagte Harry und sah wegen Einzelheiten in sein Notizbuch. »Die Jalousien der Krematoriumsfenster waren nicht heruntergelassen, daher konnte ich alles sehen, fast so gut, als wäre ich selbst in dem Raum gewesen. Ich habe den Leichnam gesehen... den schrecklichen Zustand, in dem er sich befand. Und das Gesicht. Ein paar Tage später, als die Zeitung einen Artikel über Armes' Verschwinden brachte, erkannte ich ihn als den Jungen, den sie verbrannt hatten.«
Das große Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit, abgesehen vom Licht der Taschenlampe, das Harry mit der Hand abschirmte und auf das offene Notizbuch beschränkte. Die weißen Seiten schienen in einem eigenen Licht zu glühen, als wären sie die Seiten eines magischen oder heiligen - oder unheüigen - Buches.
Harry Talbots mitgenommenes Äußeres wurde vom Widerschein dieser Seiten spärlich beleuchtet, und das eigentümliche Licht betone die Linien seines Gesichts und ließ ihn älter aussehen, als er war. Sam wußte, jede Linie stand für ein tragisches Ereignis und für Leid. Sympathie regte sich in ihm. Kein Mitleid. Er konnte niemanden bemitleiden, der so entschlossen war wie Talbot. Aber Sam war sich über Kummer und Einsamkeit von Harrys abgeschiedenem Leben im klaren. Während er den an den Rollstuhl gefesselten Mann betrachtete, wuchs Sams Zorn auf die Nachbarn. Warum hatten sie ihn nicht öfter zum Essen eingeladen oder an ihren Feiertagspartys teilnehmen lassen? Warum hatten sie ihn so sehr sich selbst überlassen, daß er nur mittels Fernglas und Teleskop am gesellschaftlichen Leben dieser Stadt teilnehmen konnte? Sam empfand stechende Verzweiflung über die Unwilligkeit der Menschen, sich zu öffnen, über die Art, wie sie sich selbst und andere isolierten. Dann mußte er bestürzt an sein eigenes Unvermögen denken, mit seinem Sohn zu kommunizieren, was seine Stimmung weiter verschlechterte.
Zu Harry sagte er: » Was meinen Sie damit, der Zustand, in dem sich Armes' Leichnam befand?«
»Zerfetzt. Zerstückelt.«
»Er ist nicht ertrunken?«
»Sah nicht so aus.«
»Zerfetzt... Was genau meinen Sie damit?« fragte Tessa.
Sam wußte, sie dachte an die Leute, deren Schreie sie im Motel gehört hatte - und an ihre Schwester.
Harry zögerte, dann sagte er: »Nun, ich sah ihn auf dem Tisch im Krematorium, bevor sie ihn in den Ofen schoben. Er war... ausgeweidet worden. Beinahe geköpft. Schrecklich. .. zerrissen. Er sah so schlimm aus, als wäre er auf eine Tellermine getreten und von den Splittern zerfetzt worden.«
Sie saßen schweigen da und dachten über diese Beschreibung nach.
Nur Moose schien unberührt. Er gab einen leisen Laut der Zufriedenheit von sich, als Tessa ihn hinter den Ohren kraulte.
Sam dachte, daß es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, ein niederes Tier zu sein, ein Wesen der Gefühle, ohne die Last des Intellekts. Oder, das andere Extrem, ein wirklich intelligenter Computer, nur Intellekt und überhaupt keine Gefühle. Die große Doppelbelastung von Gefühlen und hoher Intelligenz lag nur auf den Menschen und sie machte das Leben so schwer; man dachte immer darüber nach, was man empfand, anstatt einfach dem Augenblick zu folgen, oder man versuchte immer, in einer gegebenen Situation das zu empfinden, was man empfinden zu müssen glaubte. Gedanken und Urteilsvermögen wurden unweigerlich von Gefühlen beeinflußt - manchmal auf unterbewußter Ebene, so daß man nicht einmal völlig begriff, warum man bestimmte Entscheidungen traf, sich auf bestimmte Weise verhielt. Emotionen umwölkten das Denken; aber wenn man zu eingehend über seine Gefühle nachdachte, nahm man ihnen die Schärfe. Der Versuch, inbrünstig zu empfinden und gleichzeitig völlig klar zu denken, war, als würde man versuchen, mit sechs Keulen gleichzeitig zu jonglieren, während man mit einem Einrad auf dem Hochseil rückwärts fuhr.
»Nach dem Artikel über Armes' Verschwinden in der Zeitung«, fuhr Harry fort, »wartete ich auf eine Korrektur, aber es wurde keine abgedruckt, und da wurde mir allmählich klar, daß die seltsamen Vorkommnisse bei Callan nicht nur seltsam waren, sondern möglicherweise kriminell - und daß die Polizei darin verwickelt war.«
»Paula Parkins wurde auch zerrissen«, sagte Sam.
Harry nickte. »Angeblich von ihren Dobermännern.«
»Dobermänner?« fragte Tessa.
Sam hatte ihr in der Wäscherei erzählt, daß ihre Schwester nur einer von vielen seltsamen Todesfällen und Selbstmorden war, aber er hatte ihr keine Einzelheiten der anderen erzählt. Jetzt erzählte er ihr rasch von Parkins.
»Nicht von ihren eigenen Hunden«, stimmte Tessa zu. »Sie wurde von dem zerrissen, was auch Armes tötete. Und die Leute heute im Cove Lodge.«
Harry hörte zum erstenmal von den Morden im Cove Lodge. Sam mußte ihm alles erklären, auch, wie er und Tes-sa einander in der Wäscherei begegnet waren.