»Es könnten noch mehr sein, als wir denken«, sagte Harry.
»Wie das?«
»Nun, ich beobachte das Institut schließlich nicht jeden Abend die ganze Zeit über. Und ich gehe meist gegen halb zwei, aber nie später als zwei ins Bett. Wer sagt, daß ich nicht Besuche übersehen habe, daß nicht weitere Leichen in den frühen Morgenstunden gebracht wurden?«
Sam dachte darüber nach, während er wieder durch das Okular sah. Die Rückfront von Callans Institut blieb dunkel und still. Er drehte das Teleskop langsam nach rechts und suchte die Nachbarschaft in nördlicher Richtung ab.
Tessa sagte: »Aber warum wurden sie getötet?«
Niemand wußte eine Antwort.
»Und von was?« fragte sie.
Sam studierte einen Friedhof weiter nördlich an der Conquistador, dann seufzte er, sah auf und erzählte ihnen von seinem Erlebnis an diesem Abend am Iceberry Way. »Ich dachte, es waren Halbstarke, Jugendkriminelle, aber jetzt glaube ich, es waren dieselben Wesen, die das Paar im Cove Lodge getötet haben, dieselben, deren Fuß Sie unter der Tür gesehen haben.«
Er konnte förmlich sehen, wie Tessa in der Dunkelheit frustriert die Stirn runzelte, als sie sagte: »Aber was sind sie?«
Harry Talbot zögerte. Dann: »Schreckgespenster.«
52
Er wagte nicht, die Sirene einzuschalten, und auf der letzten Viertelmeile machte er sogar die Scheinwerfer aus, so näherte sich Loman um zehn nach drei Uhr morgens mit zwei Autos, fünf Männern und Schrotflinten dem Haus von Mike Peyser. Loman hoffte, sie würden die Gewehre nur zur Einschüchterung einsetzen müssen. Bei ihrer einzigen B;geg-nung mit einem Regressiven - Jordan Coombs am vierten September -, waren sie nicht auf dessen Wut vorbereitet gewesen und hatten ihm den Kopf wegpusten müssen, um die eigene Haut zu retten. Shaddack hatte nur einen Leichnam untersuchen können. Er war wütend über die vertane Chance gewesen, die Psychologie - und die funktionierende Physiologie - eines dieser metamorphosebedingten Psychopathen zu untersuchen. Unglücklicherweise war ein Betäubungsgewehr nicht von Nutzen, da die Regressiven Neue Menschen waren, die schlecht geworden waren, und alle Neuen Menschen, regressiv oder nicht, hatten einen radikal veränderten Metabolismus, der nicht nur wundersam schnelle Heilung ermöglichte, sondern auch die schnelle Absorption, Verdauung und Unschädlichmachung toxischer Substanzen wie Gifte und Betäubungsmittel. Man hätte einen Regressiven nur dann ruhigstellen können, wenn er einer dauernden Infusion zugestimmt hätte, was verdammt unwahrscheinlich war.
Mike Peysers Haus war ein einstöckiger Bungalow mit Vorder- und Hinterveranda an West- und Ostseite, gut erhalten und auf einem Grundstück von sechs Ar; von einigen großen Gummibäumen abgeschirmt, die ihre Blätter noch nicht verloren hatten. In keinem Fenster brannte Licht.
Loman schickte einen Mann zur Nord- und einen zur Südseite, damit Peyser nicht durch ein Fenster entkommen konnte. Einen dritten Mann postierte er vor der Vorderveranda, damit er den Eingang im Auge behielte. Mit den beiden anderen Männern - Sholnick und Pennyworth - ging er ums Haus herum und leise die Stufen zur hinteren Veranda hinauf.
Jetzt, wo der Nebel fortgeweht worden war, war die Sicht gut. Aber der heulende, pfeifende Wind war ein Hintergrundlärm, der andere Geräusche übertönte, die sie vielleicht hören mußten, während sie Peyser verfolgten.
Pennyworth stellte sich links von der Tür an die Hauswand, Sholnick rechts. Beide hatten halbautomatische Schrotflinten.
Loman drückte die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Er stieß sie auf und trat zurück.
Seine beiden Männer betraten einer nach dem anderen die Küche und senkten die Schrotflinten, um zu feuern, obwohl sie wußten, der Befehl lautete, Peyser lebend zu fangen, wenn es möglich war. Aber sie hatten nicht vor, sich selbst zu opfern, nur um Shaddack die Bestie lebend zu bringen. Einen Augenblick später fand einer den Lichtschalter.
Loman, der selbst eine Schrotflinte Kaliber 20 hatte, betrat das Haus nach ihnen. Leere Schüsseln, zerbrochene Teller und schmutzige Tupperbehälter lagen auf dem Boden verstreut, dazu ein paar Rigatoni mit roter Tomatensauce, ein halber Fleischklops, Eierschalen, ein Stück Kuchenkruste und andere Essensreste. Einer von vier Stühlen am Frühstückstisch lag auf der Seite; ein weiterer war an einer Schrankreihe in Stücke gehauen worden und hatte ein paar Keramikfliesen zersplittert.
Direkt geradeaus führte ein Türbogen ins Eßzimmer. Restlicht aus der Küche erhellte vage Tisch und Stühle dort.
Links, neben dem Kühlschrank, befand sich eine Tür. Barry Sholnick machte sie vorsichtig auf. Ein Regal mit Konservendosen auf dem Treppenabsatz. Stufen führten in den Keller hinunter.
»Dort sehen wir später nach«, sagte Loman leise. »Wenn wir mit dem Haus fertig sind.«
Sholnick nahm lautlos einen Stuhl vom Frühstückstisch und klemmte ihn schräg unter die Türklinke, damit nichts aus dem Keller kommen und ihnen nachschleichen konnte, wenn sie in die anderen Zimmer gingen.
Sie standen einen Augenblick da und lauschten.
Windböen hämmerten gegen das Haus. Ein Fenster klapperte. Vom Dachboden oben konnte man das Ächzen von Dachbalken hören, und von noch weiter oben das Klirren loser Dachziegeln.
Seine Männer fragten Loman stumm, was sie tun sollten. Pennyworth war erst fünfundzwanzig, hätte für achtzehn gelten können und hatte ein so frisches und argloses Gesicht, daß man ihn eher für einen Vertreter religiöser Flugschriften als für einen Polizisten hätte halten können. Shol-nick war zehn Jahre älter und hatte ein härteres Aussehen.
Loman winkte sie zum Eßzimmer.
Sie traten ein und schalteten dabei die Lichter ein. Das Eß-zimmer war leer, daher gingen sie vorsichtig ins Wohnzimmer.
Pennyworth drückte auf einen Schalter an der Wand und schaltete damit eine Chrom- und Messing-Lampe an, eines der wenigen nicht zertrümmerten Möbelstücke. Die Kissen von Sofa und Sesseln waren zerfetzt; überall lagen Klumpen der Schaumgummifüllung, die wie giftige Pilze aussahen. Bücher waren aus den Regalen gezogen und in Fetzen gerissen worden. Eine Keramiklampe, ein paar Vasen und die Glasplatte eines Kaffeetischchens waren zerschmettert worden. Die Türen des Fernsehschränkchens waren abgerissen, der Bildschirm eingeschlagen. Hier waren blinde Wut und wilde Kraft am Werk gewesen.
Das Zimmer roch stark nach Urin... und nach etwas weniger Stehendem und nicht so Bekanntem. Möglicherweise der Geruch des Wesens, das für die Zerstörung verantwortlich war. Zu diesem schwächeren Geruch gehörte die saure Ausdünstung von Schweiß, aber es war auch etwas Seltsameres dabei, etwas, das Loman gleichzeitig den Magen umdrehte und vor Angst verkrampfte.
Links führte ein Hur zu den Schlafzimmern und Bädern. Loman deckte ihn mit der Schrotflinte ab.
Die beiden Deputies gingen in die Diele, die durch einen seitlichen Türbogen mit dem Wohnzimmer verbunden war. Rechts befand sich ein Schrank, direkt neben der Eingangstür. Sholnick stellte sich mit gesenkter Schrotflinte davor. Penny worth riß die Tür von der Seite auf. In dem Schrank befanden sich nur Mäntel.
Der einfache Teil der Suche lag hinter ihnen. Vor ihnen lag der schmale Flur mit drei Türen, eine halb offen, die beiden anderen angelehnt, dunkle Zimmer dahinter. Dort gab es weniger Bewegungsfreiheit und mehr dunkle Stellen, von denen ein Angreifer zuschlagen konnte. Der Wind heulte in den Erkern. Er strich über eine Regenrinne und erzeugte einen leisen, klagenden Ton.
Loman hatte nie zu den Vorgesetzten gehört, die ihre Leute in die Gefahr schickten und selbst in Sicherheit zurückblieben. Er hatte zwar Stolz und Selbstachtung und Pflichtgefühl zusammen mit anderen Eigenschaften und Empfindungen der Alten Menschen abgestreift, aber seine Pflicht war immer noch eine Gewohnheit in ihm - tatsächlich weniger bewußt, als vielmehr ein Reflex -, und er handelte so, wie er es vor der Verwandlung getan haben würde. Er trat als erster in den Flur, wo rechts und links je eine Tür warteten. Er ging rasch ans Ende, zur zweiten Tür links, die halb offen war; er kickte sie nach innen und sah im Licht vom Flur ein kleines, leeres Badezimmer, bevor die Tür von der Wand abprallte und wieder zufiel.