Pennyworth nahm das erste Zimmer links. Er trat ein und hatte den Lichtschalter gefunden, bis Loman dorthin kam. Es war ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Arbeitstisch, zwei Stühlen, Schränken, hohen Bücherregalen voll von Büchern mit grellbunten Rücken und zwei Computern. Loman trat ein und zielte auf den Schrank, wo Pennyworth vorsichtig erst die eine und dann die andere Spiegeltür beiseite rollte.
Nichts.
Barry Sholnick blieb auf dem Flur, er richtete die Schrotflinte auf das Zimmer, in dem sie noch nicht nachgesehen hatten. Als Loman und Pennyworth wieder zu ihm kamen, schoß Sholnick diese Tür mit dem Lauf der Schrotflinte ganz auf. Während sie aufschwang, schnellte er zurück, weil er sicher war, daß ihn etwas aus der Dunkelheit heraus anspringen würde, aber nichts geschah. Er zögerte, dann trat er unter die Tür, tastete mit einer Hand nach dem Lichtschalter, fand ihn, sagte: »Oh, mein Gott«, und trat hastig wieder auf den Flur heraus.
Loman sah an seinem Deputy vorbei in das Zimmer und erblickte eine Höllengestalt, die auf dem Boden kauerte und sich an die gegenüberliegende Wand drückte. Es war ein Regressiver, zweifellos Peyser, aber er sah dem regressiven Jordan Coombs nicht so ähnlich, wie Loman erwartet hatte. Es gab Gemeinsamkeiten, ja, aber nicht viele.
Loman drängte sich an Sholnick vorbei und ging über die Schwelle. »Peyser?«
Das Ding am anderen Ende des Zimmers blinzelte ihn an und bewegte den verzerrten Mund. Mit einer Stimme, die flüsternd und doch kehlig, wild und doch gequält war, wie es nur die Stimme eines halbwegs intelligenten Wesens sein konnte, sagte es: »...Peyser, Peyser, Peyser, ich, Peyser, ich, ich... «
Auch hier war der Geruch von Urin, aber jetzt war dieser andere Geruch vorherrschend - beißend, moschusartig.
Loman ging weiter in das Zimmer. Pennyworth folgte ihm. Sholnick blieb an der Tür stehen. Loman blieb zwölf Schritte von Peyser entfernt stehen, und Pennyworth ging zur Seite und hielt die Flinte bereit.
Als sie Jordan Coombs am vierten September in dem vernagelten Kino in die Ecke gedrängt hatten, hatte dieser sich in einem Zustand befunden, der irgendwie an einen Gorilla mit gedrungenem, kräftigem Körper erinnert hatte. Mike Peyser dagegen hatte ein weitaus hagereres Äußeres, sein Körper, der an die Schlafzimmerwand gedrückt war, sah mehr wölfisch als affenähnlich aus. Die Hüften befanden sich in einem Winkel zur Wirbelsäule und verhinderten so, daß er vollkommen aufrecht stehen oder sitzen konnte, und seine Beine wirkten an den Schenkeln zu kurz und an den Schienbeinen zu lang. Er war von dichtem Haarwuchs bedeckt, aber nicht so dicht, daß man ihn als Pelz hätte bezeichnen können.
»Peyser, ich, ich, ich...«
Coombs' Gesicht war teilweise menschenähnlich gewesen, aber größtenteils das eines höheren Primaten, mit knochiger Stirn, flacher Nase und einem vorstehenden Kiefer mit großen, häßlichen, scharfen Zähnen, gleich denen eines Pavians. Mike Peysers gräßlich entstelltes Äußeres enthielt dagegen eine Spur Wolf, oder Hund; Mund und Nase waren zu einer deformierten Schnauze vorgezogen. Die breite Stirn erinnerte an die eines Affen, wirkte aber übertrieben, und in den blutunterlaufenen Augen, die in schattigen Höhlen tief unter dem knochigen Riff der Stirn lagen, war ein Ausdruck der Wut und des Entsetzens, der durch und durch menschlich war.
Peyser hob eine Hand, deutete auf Loman und sagte: »...hilf mir, mir, hilf, etwas stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt nicht, hilf...«
Loman betrachtete die mutierte Hand voll Angst und Staunen zugleich, er erinnerte sich daran, wie seine eigene Hand angefangen hatte, sich zu verändern, als er an diesem Abend beim Haus der Fosters den Ruf der Regressiven vernommen hatte. Verlängerte Finger. Große, grobe Knöchel. Scharfe Krallen anstelle von Fingernägeln. Menschliche Hände, was Form und Anzahl der Finger anbetraf, aber ansonsten vollkommen fremd.
Scheiße, dachte Loman, diese Hände, diese Hände. Ich habe sie im Kino gesehen, oder im Fernsehen, als wir die Kassette Howling ausgeliehen hatten. Rob Bottin. Das war der Name des Spezialeffektemachers, der den Werwolf geschaffen hatte. Er erinnerte sich daran, weil Danny vor der Verwandlung völlig vernarrt in Spezialeffekte gewesen war. Diese Hände sahen fast genauso wie die gottverdammten Hände des Werwolfs in Howling aus!
Das war so verrückt, daß man kaum darüber nachdenken konnte. Das Leben ahmte die Fantasie nach. Fleisch gewordene Fantasie. Während sich das zwanzigste Jahrhundert zunehmend seinem letzten Jahrzehnt näherte, war der wissenschaftliche und technologische Fortschritt an einem Scheidepunkt angekommen, wo der Traum der Menschheit von einem besseren Leben häufig erfüllt, wo aber auch Alpträume zu Wirklichkeit gemacht werden konnten. Peyser war ein böser, böser Traum, der aus dem Unterbewußtsein gekrochen und Fleisch geworden war; man konnte ihm nicht entkommen, indem man aufwachte; er würde nicht verschwinden, so wie die Ungeheuer, die den Schlaf heimsuchten.
»Wie kann ich dir helfen?« fragte Loman argwöhnisch.
»Erschießen Sie ihn«, sagte Pennyworth.
Loman antwortete heftig: »Nein!«
Peyser hob die beiden Hände mit den verzerrten Fingern und sah sie einen Moment an, als sähe er sie zum erstenmal. Er gab ein Stöhnen von sich, dann ein dünnes und klägliches Wimmern, »...verändern, kann mich nicht mehr verändern, kann nicht, habe es versucht, will es, brauche es, will es, will es, kann nicht, habe es versucht, kann nicht...«
Sholnick sagte von der Tür: »Großer Gott, er steckt fest -er ist gefangen. Ich dachte, die Regressiven könnten sich durch Willenskraft zurückverwandeln.«
»Können sie«, sagte Loman.
»Er nicht«, sagte Sholnick.
»Das behauptet er«, stimmte Penny worth mit schneller, nervöser Stimme zu. »Er sagte, er kann sich nicht verändern.«
Loman sagte: »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber die anderen Regressiven können sich verändern, denn wenn sie es nicht könnten, hätten wir sie mittlerweile alle gefunden. Sie streifen ihr verändertes Stadium ab und wandeln wieder unter uns.«
Peyser schien sie gar nicht zu bemerken. Er starrte seine Hände an und wimmerte kehlig, als würde ihn entsetzen, was er sah.
Dann fingen seine Hände an, sich zu verändern.
»Sehen Sie«, sagte Loman.
Loman hatte noch nie so eine Verwandlung gesehen; er war von Neugier, Staunen und Entsetzen gepackt. Die Krallen gingen zurück. Das Fleisch war plötzlich so formbar wie weiches Wachs; es quoll auf, schlug Blasen, pulsierte nicht im rhythmischen Fluß von Blut in den Adern, sondern seltsam, obszön; es nahm neue Formen an, als würde ein unsichtbarer Bildhauer daran arbeiten. Loman hörte Knochen krachen, bersten, wenn sie aufgebrochen und neu gebildet wurden; das Fleisch schmolz und verfestigte sich mit ekelerregenden feuchten Lauten wieder. Die Hände wurden beinahe menschlich. Dann verloren Gelenke und Unterarme etwas von ihrem grobschlächtigen, wölfischen Äußeren. Man sah in Peysers Gesicht, daß sich die menschliche Seele bemühte, den Wilden zu vertreiben, der momentan die Kontrolle hatte; die Züge des Raubtiers wichen einem sanfteren, zivilisierten Gesicht. Es war, als wäre der monströse Peyser nur die Spiegelung einer Bestie im Wasser, eines Sees, aus dem jetzt der wahre, menschliche Peyser emporstieg.
Er war zwar kein Wissenschaftler, kein Genie der Mikro -technologie, nur ein Polizist mit High-School-Abschluß; dennoch wußte Loman, daß diese grundlegende und rasche Verwandlung nicht nur den drastisch verbesserten Stoffwechselvorgängen und der Fähigkeit der Neuen Menschen, sich selbst zu heilen, zugeschrieben werden konnte. Einerlei, welche gewaltigen Fluten von Hormo nen, Enzymen und anderen biologischen Chemikalien Peysers Körper jetzt erzeugen konnte, es war unmöglich, daß Knochen und Fleisch in einer so kurzen Zeitspanne so nachdrücklich verändert werden konnten. Im Verlauf von Tagen oder Wochen ja, aber nicht innerhalb von Sekunden. Es war sicherlich physisch unmöglich. Und doch geschah es. Was bedeutete, daß in Mike Peyser eine andere Kraft am Werk war, mehr als nur biologische Vorgänge, etwas Geheimnisvolles und Furchteinflößendes.