Nebeltentakel schlangen sich um seine Beine. Die fahle Sonne war halb im dunkelnden Meer versunken. Sam erschauerte und ging in die Kneipe, um etwas zu trinken.
Keiner der drei anwesenden Kunden war in besonders munterer Stimmung. In einer der mit schwarzen Vinyl ausgekleideten Nischen links saßen ein Mann mittleren Alters und eine Frau, die sich zueinandergebeugt hatten und sich gedämpft unterhielten. An der Theke stand ein Mann mit grauem Gesicht über ein Glas Bier gekauert, das er mit beiden Händen hielt und dabei ein Gesicht machte, als hätte er gerade einen Käfer darin schwimmen gesehen.
Knight's Bridge roch, wie um ihren Namen gerecht zu werden, nach imitierter britischer Atmosphäre. In die Rückenlehnen der Stühle waren handgeschnitzte Abzeichen von Waffengattungen, zweifellos aus einem alten Wappenbuch abkopiert, eingelassen und bemalt worden. In einer Ecke stand eine Ritterrüstung, Gemälde von Fuchsjagden hingen an den Wänden. Sam setzte sich acht Hocker von dem Mann mit dem grauen Gesicht entfernt an die Bar. Der Barkeeper eilte auf ihn zu und wischte dabei mit einem sauberen Baumwolltuch über die ohnehin makellose, polierte Eichentheke.
»Ja, Sir, was darfs sein?« Er war in jeder Hinsicht ein rundlicher Mann: kleiner runder Bauch; kräftige Unterarme mit dichtem schwarzem Haarwuchs; pummeliges Gesicht; der Mund so klein, daß er nicht mit den anderen Zügen harmonierte; eine Stupsnase, die in einem kleinen runden Ball endete; Augen, die so rund waren, daß er einen ständig überraschten Ausdruck zur Schau stellte.
»Haben Sie Guinness?« fragte Sam.
»Ich würde sagen, das ist Grundausstattung für jedes echte Pub. Wenn wir kein Guinness hätten, dann... nun, dann könnten wir ebensogut zur Teestube werden.« Er hatte eine singende Stimme; jedes Wort klang so glatt und rund, wie er aussah. Er schien übertrieben darauf bedacht zu sein zu gefallen. »Möchten Sie es kalt oder leicht gekühlt? Ich habe beides.«
»Sehr leicht gekühlt.«
»Gut, Mann!« Als er mit dem Guinness und einem Glas zurückkam, sagte der Barkeeper: »Ich heiße Burt Peckham. Mir gehört der Laden.«
Während er das Bier ganz langsam am Glasrand hinabfließen ließ, damit es möglichst wenig Schaum gab, sagte Sam: »Sam Booker. Hübsches Lokal, Burt.«
»Danke. Könnten Sie vielleicht weitersagen. Ich bemühe mich, es gemütlich und gut ausgerüstet zu halten, und es war immer ziemlich voll, aber in letzter Zeit scheint es, als wäre die ganze Stadt entweder zu den Antialkoholikern übergelaufen oder selbst zu Schnapsbrennern geworden, eins von beiden.«
»Nun, es ist Montagabend.«
»In den letzten paar Monaten war es nicht einmal ungewöhnlich, wenn es Samstagabend halb leer war, was sonst nie vorgekommen ist.« Burt Peckham verzog sorgenvoll das runde Gesicht. Er polierte beim Sprechen langsam die Theke. »Der Grund dafür...ich glaube, daß der Gesundheitstrip, auf dem sich Kalifornien schon so lange befindet, endgültig ausgerastet ist. Alle bleiben zu Hause, machen Aerobic vor dem Videorekorder, essen Buchweizen und Eiweiß oder was, zum Teufel, auch immer, und trinken nur noch Mineralwasser und Obstsaft und Meisenmilch. Hören Sie, ein oder zwei Glas am Tag tun einem gut.«
Sam trank einen Schluck Guinness, seufzte zufrieden und sagte: »Das hier schmeckt eindeutig, als würde es einem gut tun.«
»Tut es. Ist gut für den Blutdruck. Hält die Därme in Form. Die Pfarrer sollten jeden Sonntag seinen Wert predigen, und nicht dagegen wettern. Alles in Maßen - dazu gehören auch ein paar Bier täglich.« Er merkte möglicherweise, daß er die Bar ein wenig zu geflissentlich polierte, denn er hängte den Lappen an einen Haken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sind Sie auf der Durchreise, Sam?« »Eigentlich«, log Sam, »mache ich eine ausgedehnte Reise an der Küste entlang, von L. A. bis zur Oregon Line, hänge herum und suche mir ein ruhiges Plätzchen für den Ruhestand.«
»Ruhestand? Ist das ein Witz?« » Vor-Ruhestand.«
»Aber Sie sind doch erst - wie alt, vierzig, einundvierzig?« »Zweiundvierzig.«
»Was sind Sie - Bankräuber?«
»Börsenmakler. Ich habe im Laufe der Jahre ein paar gute Investitionen gemacht. Ich glaube, ich kann es mir leisten, aus dem Leistungsdruck auszusteigen und mich nur noch um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Ich möchte mich irgendwo niederlassen, wo es ruhig ist, ohne Smog, ohne Verbrechen. Ich habe die Schnauze voll von L. A.«
»Man kann an der Börse tatsächlich Geld verdienen?« fragte Peckham. »Ich dachte, das wäre auch nicht besser als ein Spieltisch in Reno. Sind denn nicht alle vor die Hunde gegangen, als vor ein paar Jahren der große Börsenkrach war?«
»Für den kleinen Mann ist es ein Glücksspiel, aber als Makler kommt man zurecht, wenn man sich nicht von der allgemeinen Hysterie des Marktes anstecken läßt. Kein Markt geht ewig hoch oder runter; man muß einfach den richtigen Zeitpunkt erkennen, ab wann man gegen den Strom schwimmen muß.«
»Mit zweiundvierzig im Ruhestand«, sagte Peckham verwundert. »Und als ich ins Bar-Geschäft eingestiegen bin, habe ich gedacht, es wäre was fürs Leben. Ich sagte zu meiner Frau, in guten Zeiten trinken die Leute, um zu feiern, und in schlechten Zeiten trinken sie, um zu vergessen, daher gibt es keine bessere Branche. Und jetzt das.« Er gestikulierte ausholend mit der rechten Hand in den leeren Schankraum. » Selbst wenn ich Kondome im Kloster verkaufen würde, würde ich ein besseres Geschäft machen.«
»Bekomme ich noch ein Guinness?«
»He, vielleicht hat sich mein Glück wieder gewendet!«
Als Peckham mit der zweiten Flasche Bier zurückkam, sagte Sam: »Moonlight Cove könnte das sein, wonach ich suche. Ich denke, ich bleibe ein paar Tage und sehe mich um. Können Sie mir ein Motel empfehlen?«
»Es gibt nur noch eins: Dies ist nie eine Touristenstadt gewesen. Schätze, das wollte niemand hier. Bis diesen Sommer hatten wir vier Motels. Inzwischen sind drei pleite. Ich weiß nicht... so schön sie auch ist, vielleicht stirbt diese Stadt. Soweit ich sehen kann, nimmt die Bevölkerungszahl nicht ab, aber... verdammt, wir verlieren etwas.« Er nahm wieder den Lappen und fing an, die Eichentheke zu polieren. »Wie dem auch sei, versuchen Sie es im Cove Lodge an der Cypress Lane. Das ist die letzte Querstraße der Ocean Avenue; es liegt an der Klippe, wenn Sie Glück haben, bekommen Sie ein Zimmer mit Blick aufs Meer. Nettes, sauberes Haus.«
5
In der Diele riß Chrissie Foster die Eingangstür auf. Sie lief über die breite Veranda, die Stufen hinunter, stolperte, gewann das Gleichgewicht wieder, wandte sich nach rechts, floh an einem blauen Honda vorbei, der offenbar Tucker gehörte, über den Hof in Richtung der Ställe. Das harte Platschen ihrer Tennisschuhe schien wie Kanonenfeuer durch das dunkler werdende Dämmerlicht zu hallen. Sie wünschte sich, sie könnte lautlos laufen - und schneller. Auch wenn ihre Eltern und Tucker auf die Veranda kämen, wenn sie von den Schatten verschluckt worden wäre, würden sie hören können, wohin sie liefe.
F ast der ganze Himmel war schwarz, wie ausgebrannt, nur am westlichen Horizont war noch ein dunkles Leuchten zu sehen, als wäre das gesamte Licht des Oktobertags bis auf seine scharlachrote Essenz eingedickt worden, die sich am Boden des himmlischen Kessels niedergeschlagen hatte. Vom nahegelegenen Meer wehten Nebelschleier herein, und Chrissie hoffte, daß er rasch dichter werden würde, so dick wie Suppe, weil sie mehr Deckung brauchte.
Sie erreichte das erste der beiden Stallgebäude und rollte das schwere Tor beiseite. Der vertraute und nicht unangenehme Geruch - Stroh, Heu, Futtergetreide, Pferdefeli, Eini-ment, Sattelleder und trockener Dung - schlug ihr entgegen.
Sie drückte auf den Lichtschalter, und drei schwache Glühbirnen leuchteten auf, die das Gebäude erhellten, ohne die Tiere darin zu stören. Auf jeder Seite des Flures aus gestampfter Erde befanden sich zehn geräumige Boxen, neugierige Pferde sahen sie über einige der halbhohen Türen hinweg an. Einige gehörten Chrissies Eltern, aber die meisten waren von Leuten untergestellt, die in und um Moon-light Cove lebten. Die Pferde schnupperten und schnaubten, eines wieherte leise, als Chrissie an ihnen vorbei zur letzten Box links lief, wo ein Apfelschimmel namens Godi-va stand.