Der Hund hob den Kopf von Tessas Schoß und hechelte und grinste, als würde ihm das Lob gefallen.
»Eines Tages kam er mit den paar Dingern heim, wegen derer ich ihn fortgeschickt hatte, und außerdem hatte er einen Satz Laken und Kissenbezüge. Ich rief Jimmy Ramis an und fragte ihn, was das sollte, und Jimmy sagte, er wüßte nicht, wovon ich spräche, er hätte diese Laken nie gesehen.
Jimmys Vater gehört das Kaufhaus, und ihm gehört auch der Restpostenladen an der Landstraße. Er bekommt jede Menge Restposten und Sachen, die sich nicht so gut verkauft haben, wie die Hersteller erwarteten. Er kauft sie manchmal zu zehn Prozent des ursprünglichen Preises ein, und ich könnte mir denken, daß es ihm selbst in seinem Restpostengeschäft schwerfiel, diese Laken zu verkaufen. Jimmy hat sie zweifellos gesehen, fand sie reichlich albern und beschloß, einen Spaß mit mir zu machen. Aber am Telefon sagte Jimmy: >Harry, wenn ich etwas von diesen Laken wüßte, würde ich es Ihnen sagen, aber ich weiß nichts davon. < Und ich sagte: >Willst du mir einreden, daß Moose sie aus freien Stücken gekauft hat, mit seinem eigenen Geld?< Und Jimmy sagte: >Nein, ich schätze, er ist irgendwo zum Ladendieb geworden worauf ich sagte: >Und wie konnte er sie so ordentlich in seine Satteltaschen packen?< Sagt Jimmy: >Ich weiß nicht, Harry, aber er ist ein verdammt kluger Hund - auch wenn es so aussieht, als hätte er nicht den besten Geschmacks«
Tessa sah, wie Harry die Geschichte genoß und sie begriff auch, warum sie ihm solche Freude bereitete. Zunächst einmal war der Hund Kind, Bruder und Freund, alles in einem vereint, und Harry war stolz, daß die Leute Moose für klug hielten. Wichtiger war aber, Jimmys kleiner Scherz machte Harry zu einem Teil seiner Gemeinde, nicht nur zu einem ans Haus gefesselten Invaliden, sondern zu einem aktiv am Leben der Stadt Beteiligten. In seinem einsamen Leben gab es zu wenige solcher Vorfälle.
»Und du bist ein kluger Hund«, sagte Tessa zu Moose.
Harry sagte: »Wie dem auch sei, als Mrs. Hunsbok das nächste Mal kam, habe ich sie gebeten, das Bett damit zu beziehen, als Witz, aber dann gefielen sie mir irgendwie.«
Nachdem er die Vorhänge am zweiten Fenster zugezogen hatte, ging Sam wieder zum Stuhl, setzte sich, drehte sich zu Harry herum und sagte: »Das sind die grellsten Laken, die ich je gesehen habe. Halten Sie sie nachts nicht wach?«
Harry lächelte. »Mich kann nichts wachhalten. Ich schlafe wie ein Baby. Die Leute werden von Sorgen wegen der Zu-kunft, darüber, was ihnen zustoßen könnte, wachgehalten. Aber mir ist das Schlimmste schon zugestoßen. Oder sie liegen wach und denken über die Vergangenheit nach, über das, was gewesen ist; und auch das tue ich nicht, weil ich es einfach nicht wage.« Während er sprach, verblaßte sein Lächeln. »Und was jetzt? Was machen wir als nächstes?«
Tessa hob den Kopf des Hundes behutsam vom Schoß, stand auf, strich sich ein paar Hundehaare von den Jeans und sagte: »Nun, die Telefone funktionieren nicht, daher kann Sam das FBI nicht anrufen, und wenn wir die Stadt zu Fuß verlassen, riskieren wir eine Begegnung mit Wat-kins' Wachen oder diesen Schreckgespenstern. Wenn Sie keinen Heimfunker kennen, der uns sein Gerät benützen lassen würde, sehe ich nur eine Möglichkeit, nämlich zu fahren.«
»Vergessen Sie die Straßensperren nicht«, sagte Harry.
»Dann werden wir wohl mit einem Lastwagen fahren müssen, mit etwas Großem und Bösem, überfahren die verdammte Straßensperre einfach, fahren zur Autobahn und dann aus ihrem Bezirk hinaus. Und selbst wenn wir von der Countypolizei angehalten würden, machte das nichts, denn Sam könnte sie dazu bringen, das FBI anzurufen, die Wahrheit seiner Aussage festzustellen, und dann würden sie auf unserer Seite sein.«
»Wer ist hier eigentlich der Bundesagent?« fragte Sam.
Tessa merkte, wie sie errötete. »Tut mir leid. Sehen Sie, eine Dokumentarfilmerin ist fast immer auch ihre eigene Produzentin, manchmal Produzentin, Autorin und Regis -seurin in einem. Das heißt, wenn der künstlerische Teil hinhauen soll, muß zuerst der finanzielle Teil klappen, daher bin ich daran gewöhnt, jede Menge Planungen und Logistik zu machen. Ich wollte Ihnen nicht auf die Zehen treten.«
»Da dürfen Sie jederzeit drauf treten.«
Sam lächelte, und er gefiel ihr, wenn er lächelte. Sie merkte, daß sie sich sogar ein wenig zu ihm hingezogen fühlte. Er war weder hübsch noch häßlich, und auch nicht, was die meisten Menschen mit >unscheinbar< bezeichneten. Er war mehr... schwer zu beschreiben, aber mit angenehmem Äußeren. Sie spürte eine Dunkelheit in ihm, die tiefer reichte als seine momentanen Sorgen über die Ereignisse in Moonlight Cove - vielleicht Trauer über einen Verlust, vielleicht lange unterdrückter Zorn über ein Unrecht, das ihm widerfahren war, vielleicht ein allgemeiner Pessimismus, der damit zusammenhing, daß er bei seiner Arbeit mit den schlimmsten Elementen der Gesellschaft zu tun hatte. Aber wenn er lächelte, war er wie verwandelt.
»Wollen Sie wirklich mit einem Lastwagen durchbrechen?« fragte Harry.
»Vielleicht als allerletztes Mittel«, sagte Sam. »Aber dazu müßten wir einen finden, der groß genug ist, und stehlen, und das ist an sich schon problematisch genug. Außerdem haben sie vielleicht Gewehre an den Straßensperren, oder automatische Waffen. Gegen so etwas wollte ich nicht einmal mit einem Mack-Lastwagen anfahren. Man kann mit einem Panzer in die Hölle fahren, aber der Teufel wird einen trotzdem bekommen, daher ist es das Beste, gar nicht erst dorthin zu gehen.«
»Aber wohin gehen wir dann?« fragte Tessa.
»Schlafen«, sagte Sam. »Es gibt einen Ausweg, eine Methode, das Bureau zu benachrichtigen. Ich sehe ihn aus den Augenwinkeln, aber wenn ich ihn direkt ansehen will, verschwindet er. Das liegt daran, daß ich müde bin. Ich brauche ein paar Stunden in der Falle, damit ich wieder frisch werde und klar denken kann.«
Nach allem, was sich im Cove Lodge zugetragen hatte, war auch Tessa erschöpft, aber sie war irgendwie überrascht, daß sie nicht nur schlafen konnte, sondern es auch wollte. Als sie in ihrem Motelzimmer stand und die Schreie der Sterbenden und das wilde Kreischen der Killer gehört hatte, hätte sie nicht gedacht, daß sie jemals wieder schlafen könnte.
56
Shaddack kam um fünf Minuten vor vier Uhr morgens bei Peysers Haus an. Er fuhr seinen anthrazitfarbenen Lieferwagen mit den dunkel getönten Scheiben und nicht den Mercedes, weil im Lieferwagen ein Computerterminal an der Konsole zwischen den Sitzen montiert war, dort, wo der Hersteller eigentlich eine Klimaanlage vorgesehen hatte. Da die bisherige Nacht so ereignisreich gewesen war, hielt es Shaddack für eine gute Idee, in Reichweite der Verbindung zu bleiben, die wie ein silbernes Spinnennetz durch ganz Moonlight Cove gesponnen war.
Als Shaddack durch den Vorgarten zur Veranda ging, rollte ferner Donner über den Horizont des Pazifik. Der heftige Wind, der den Nebel nach Osten geweht hatte, hatte auch einen Sturm vom Westen gebracht. Im Verlauf der vergangenen Stunden hatten brodelnde Wolken den Himmel überzogen und die funkelnden Sterne zugedeckt, die kurz zwischen dem Abziehen des Nebels und dem Aufkommen der Sturmwolken zu sehen gewesen waren. Jetzt war die Nacht sehr dunkel und still. Er zitterte in seinem Kaschmirmantel, unter dem er immer noch den Jogginganzug trug.