»Papperlapapp«, sagte Watkins ungeduldig.
Shaddack stand auf. Er streckte die Hände wieder in die Manteltaschen. »Ich will es einmal so ausdrücken: Die Theorie besagt, daß das Bewußtsein die größte Macht des Universums ist, daß es die stoffliche Welt nach ihrem Willen formen kann.«
»Bewußtsein über Materie.«
»Richtig.«
»Wie ein Talk-Show-Zauberer, der einen Löffel verbiegen oder eine Uhr zum Stillstehen bringen kann.«
»Ich vermute, diese Leute sind meistens Scharlatane. Aber, ja, vielleicht ist diese Macht wirklich in uns. Wir wissen nur nicht, wie wir sie anzapfen sollen, weil wir uns Jahrmillio-nen lang von der stofflichen Welt haben beherrschen lassen. Wir sind durch Gewohnheit, Stasis und dadurch, daß wir der Ordnung den Vorzug über das Chaos geben, der Gnade der materiellen Welt ausgeliefert. Aber worüber wir uns hier unterhalten«, sagte er und deutete auf Sholnick und Peyser, »das ist komplexer und aufregender, als einen Löffel mit dem Verstand zu verbiegen. Peyser verspürte aus Gründen, die ich nicht verstehe, den Drang, regressiv zu werden, möglicherweise einzig wegen des Nervenkitzels... «
»Wegen des Nervenkitzels.« Watkins' Stimme wurde leiser, beinahe gedämpt, und sie war von solcher Wut und Angst erfüllt, diß Shaddack noch mulmiger zumute wurde. »Animalische Macht ist aufregend. Animalische Bedürfnisse. Man verspürt animalischen Hunger, animalische Lust, Blutdurst - und man fühlt sich dazu hingezogen, weil es so... einfach und übermächtig scheint, so natürlich. Es ist die Freiheit.«
»Freiheit?«
»Freiheit von der Verantwortung, von Sorgen, vom Druck der zivilisierten Welt, vom allzu häufigen Denken. Der Wunsch, regressiv zu werden, ist außerordentlich stark, weil man spürt, daß das Leben danach viel einfacher und aufregender sein wird«, sagte Watkins und sprach damit offensichtlich das aus, was er selbst empfunden hatte, als er sich zu jenem veränderten Zustand hingezogen fühlte. »Wenn man zum Tier wird, besteht das Leben nur noch aus Empfindungen, nur Schmerz und Lust, ohne etwas intellektualisie-ren zu müssen. Das ist jedenfalls ein Teil davon.«
Shaddack war stumm; ihn beunruhigte die Leidenschaft, mit der Watkins - normalerweise kein allzu offener Mensch
- vom Drang, regressiv zu werden, gesprochen hatte.
Ein weiteres Dröhnen ließ den Himmel erbeben, noch heftiger als die vorhergehende. Der erste Donnerschlag brachte die Schlafzimmerfenster zum Klirren.
Shaddack sagte mit wirbelnden Gedanken: »Wie auch immer, das Entscheidende ist, als Peyser diesen Drang verspürte, zur Bestie zu werden, zum Jäger, entwickelte er sich nicht entlang des menschlichen genetischen Stammbaums zurück. Seiner Meinung nach ist der Wolf offenbar der größte aller Jäger, die erstrebenswerteste Form für ein Raubtier, daher wollte er wolfsähnlich werden.«
»Einfach so«, sagte Watkins skeptisch.
»Ja, einfach so. Verstand über Materie. Die Metamorphose ist weitgehend ein geistiger Vorgang. Oh, selbstverständlich kommt es zu körperlichen Veränderungen. Aber wir sprechen hier möglicherweise nicht von einer völligen Verwandlung der Materie... nur von biologischen Strukturen. Die grundlegenden Nukleotiden bleiben dieselben, aber ihre Abfolge verändert sich drastisch. Strukturelle Gene werden durch Willenskraft in Operatorgene verwandelt...«
Shaddacks Stimme überschlug sich, als seine Erregung zunahm, die Angst überflügelte und ihn atemlos machte. Er hatte mit dem Projekt Moonhawk viel mehr erreicht als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Die erstaunliche Errungenschaft war Ursache seiner plötzlichen Freude und eskalierenden Furcht: Freude, weil er den Menschen die Fähigkeit gegeben hatte, ihre körperliche Erscheinung zu bestimmen, und irgendwann einmal vielleicht alle Materie durch reine Willenskraft zu formen; und Angst, weil er nicht sicher war, ob die Neuen Menschen lernen konnten, ihre Fähigkeiten richtig zu kontrollieren und anzuwenden... oder ob er sie auch weiterhin würde beherrschen können.
»Die Gabe, die ich Ihnen gegeben habe - computerunterstütze Physiologie und Befreiung von Emotionen - entfesselt die Macht des Verstandes über die Materie. Sie ermöglicht dem Bewußtsein, die Gestalt zu bestimmen.«
Watkins schüttelte den Kopf; es stieß ihn eindeutig ab, was Shaddack sagte. »Peyser wurde vielleicht freiwillig, was er war. Vielleicht wollte es Sholnick auch. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich es wollte. Als mich der Drang überkam, mich zu verändern, habe ich dagegen angekämpft wie ein ehemaliger Süchtiger, der den Wunsch nach Heroin ausschwitzt. Ich wollte es nicht. Es kam über mich... so wie die Macht des Vollmonds über einen Werwolf kommt.«
»Nein«, sagte Shaddack. »Unbewußt wollten Sie die Veränderung, Loman, und Sie wollten sie zweifellos teilweise auch auf einer bewußten Ebene. Sie müssen sie bis zu einem gewissen Grad gewollt haben, denn Sie haben so nachdrücklich davon gesprochen, wie anziehend die Regression war. Sie haben der Macht von Verstand über den Körper nur des -halb widerstanden, weiß Sie die Verwandlung eine Kleinigkeit beunruhigender als faszinierend fanden. Wenn Sie etwas von Ihrer Angst davor verlieren... oder wenn der veränderte Daseinszustand nur eine Kleinigkeit anziehender wird... nun, dann wird sich Ihr psychologisches Gleichgewicht verlagern, und Sie werden sich neu gestalten. Aber es wird keine externe Kraft am Wirken sein. Ihr eigener Verstand wird es tun.«
»Warum konnte Peyser dann nicht zurückkehren?«
»Wie ich sagte, und wie Sie angedeutet haben, weil er es nicht wollte.«
»Er war gefangen.«
»Nur von seinem eigenen Verlangen.«
Watkins sah auf den grotesken Leichnam des Regressiven hinunter. »Was haben Sie uns angetan, Shaddack?«
»Haben Sie nicht verstanden, was ich gesagt habe?«
»Was haben Sie uns angetan?«
»Dies ist ein großes Geschenk!«
»Keine Gefühle zu haben, abgesehen von Angst?«
»Das befreit Ihren Verstand, und gibt Ihnen die Kraft, Ihre ureigene Gestalt zu kontrollieren«, sagte Shaddack aufgeregt. »Ich kann nur nicht verstehen, warum die Regressiven sich allesamt für einen submenschlichen Zustand entschieden haben. Sie haben doch sicher die Kraft in sich, eine Evolution durchzumachen, keine Devolution, sich über das menschliche Dasein hinaus zu etwas Höherem, Saubererem, Reinerem zu erheben. Vielleicht haben sie sogar die Macht, zu einem Wesen reinsten Bewußtseins zu werden, Intellekt ohne irgend eine stoffliche Gestalt. Warum haben sich diese Neuen Menschen statt dessen alle entschieden, regressiv zu werden?«
Watkins hob den Kopf, und seine Augen hatten einen halb toten Ausdruck, als hätten sie den Tod vom Anblick des Leichnams absorbiert. »Was nützt es, die Macht eines Gottes zu haben, wenn man nicht gleichzeitig die schlichten Freuden eines Menschen erleben kann?«
»Aber Sie können alles erleben und tun, was Sie wollen«, sagte Shaddack verzweifelt.
»Liebe nicht.«
»Was?«
»Keine Liebe oder Haß oder Freude oder ein anderes Gefühl, außer Angst.«
»Aber die brauchen Sie nicht. Daß Sie sie nicht haben, hat Sie frei gemacht.«
»Sie sind kein Dummkopf«, sagte Watkins, »daher nehme ich an, Sie verstehen nicht, weil Sie'psychologisch... verdreht, verdorben sind.«
»Sie dürfen nicht so zu mir sprechen...«
»Ich versuche, Ihnen klarzumachen, warum alle die submenschliche Gestalt der übermenschlichen vorgezogen haben. Der Grund dafür ist, daß es für ein denkendes Wesen von hoher Intelligenz keine Freude geben kann, die frei von Emotionen ist. Wenn man den Menschen ihre Emotionen nimmt, dann nimmt man ihnen ihre Freude, daher suchen sie ein verändertes Dasein, in dem komplexe Emotionen und Freude nicht zusammenhängen - das Leben eines Tieres, das nicht denkt.«