Ein hohles, irgendwie pochendes Geräusch umgab ihn. Zuerst dachte er, es wäre ein inneres Geräusch, nur in seinem Kopf, möglicherweise das leise Rauschen von Gehirnzellen, die aufloderten und an der Anstrengung abstarben, den regressiven Drang zu unterdrücken. Dann wurde ihm klar, daß es der Regen war, der auf dem Dach des Bungalows dröhnte.
Als er die Augen wieder aufmachte, war sein Sehvermögen beeinträchtigt. Er klärte sich, und er sah Shaddack an, der auf der anderen Seite des Flurs stand, direkt hinter der offenen Schlafzimmertür. Hager, mit langem Gesicht und so blaß, daß man ihn für einen Albino halten konnte, mit diesen gelblichen Augen und in dem dunklen Übermantel - so sah der Mann wie eine Erscheinung aus, möglicherweise wie der Tod selbst.
Wäre dies der Tod gewesen, wäre Loman möglicherweise einfach aufgestanden und hätte ihn umarmt. Statt dessen sagte er, während er genügend Kraft zum Aufstehen sammelte: »Keine Verwandlungen mehr. Sie müssen die Verwandlungen stoppen.«
Shaddack sagte nichts.
»Sie werden nicht aufhören, nicht?«
Shaddack sah ihn nur an.
»Sie sind verrückt«, sagte Loman. »Sie sind vollkommen verrückt, und doch habe ich keine andere Wahl, als zu tun, was Sie verlangen... oder mich selbst umzubringen.«
»Sprechen Sie nie wieder so mit mir. Niemals. Vergessen Sie nicht, wer ich bin.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Loman. Er richtete sich mühsam auf, war aber benommen und schwach. »Sie haben das ohne meine Zustimmung mit mir gemacht. Und wenn die Zeit kommt, da ich dem Wunsch, regressiv zu werden, nicht mehr widerstehen kann, wenn ich in die Wildheit versinke, wenn ich keine Scheißangst mehr vor Ihnen habe, werde ich irgendwie genügend Verstand behalten, mich auch daran zu erinnern, wo Sie sind, und dann werde ich zu Ihnen kommen.«
»Sie drohen mir?« sagte Shaddack, offensichtlich maßlos verblüfft.
»Nein«, sagte Loman. »Drohen ist nicht das richtige Wort.«
»Sollte es auch besser nicht sein. Denn wenn mir etwas zustößt, ist Sonne programmiert, einen Befehl auszusenden, der von den Mikrokugelballungen in Ihnen empfangen wird und... «
»...uns alle auf der Stelle tötet«, sagte Loman für ihn. »Ja, ich weiß. Sie haben es mir gesagt. Wenn Sie gehen, gehen wir alle mit Ihnen, genau wie vor Jahren die Leute in Jones -town, die zusammen mit ihrem Reverend Jim ihren vergifteten Saft getrunken und ins Gras gebissen haben. Sie sind unser Reverend Jim Jones, ein Jim Jones des High-Tech-Zeitalters, Jim Jones mit einem Silikonherzen und dichtgepackten Halbleitern zwischen den Ohren. Nein, ich drohe Ihnen nicht, Reverend Jim, denn >drohen< ist ein zu dramatisches Wort dafür. Ein Mann, der eine Drohung ausstößt, muß starke Emp findungen haben, muß vor Wut glühen. Ich bin ein Neuer Mensch. Ich habe nur Angst. Mehr kann ich nicht haben. Angst. Daher ist es keine Drohung. Nichts dergleichen. Es ist ein Versprechen.«
Shaddack trat durch die Schlafzimmertür in den schmalen Flur. Ein kalter Luftzug schien ihn zu begleiten. Vielleicht bildete es sich Loman nur ein, aber der Flur schien kälter zu sein, nachdem Shaddack ihn betreten hatte.
Sie sahen einander lange an.
Schließlich sagte Shaddack: »Sie werden auch weiterhin tun, was ich sage.«
»Ich habe keine andere Wahl«, stellte Loman fest. »So haben Sie mich gemacht - ohne eine andere Wahl. Ich bin völlig in Ihrer Hand, o Herr, aber nicht Liebe hält mich dort -sondern Angst.«
»Das ist besser«, sagte Shaddack.
Er kehrte Loman den Rücken zu und ging den Flur entlang, ins Wohnzimmer, aus dem Haus und hinaus in die Nacht und den Regen.
Teil Zwei
TAGESANBRUCH IM HADES
Es gelang mir nicht, etwas Falsches und Schreckliches zu verhindern. Ich empfand ein gräßliches Gefühl der Ohnmacht.
ANDREJ SACHAROW
Macht beschränkt noch mehr als sie korrumpiert, sie senkt die Gabe, in die Zukunft zu schauen und steigert die Hast des Handelns.
WILL UND ARIEL DURANT
1
Vor der Dämmerung und nach weniger als einer Stunde Schlaf wurde Tessa Lockland durch Kälte in ihrer rechten Hand und das schnelle, heiße Lecken einer Zunge geweckt. Ihr Arm war über den Rand der Matratze gefallen, die Hand baumelte dicht über dem Teppich, und etwas da unten probierte aus, wie sie schmeckte.
Sie richtete sich kerzengerade im Bett auf und wagte nicht zu atmen.
Sie hatte vom Gemetzel im Cove Lodge geträumt, von kaum erblickten, schlurfenden und schnellen Bestien mit gefährlichen Zähnen und Krallen gleich scharf geschliffenen, gekrümmten Klingen. Jetzt dachte sie, daß der Alptraum Wirklichkeit geworden wäre, daß Harrys Haus von diesen Kreaturen erstürmt worden und die suchende Zunge Vorbotin eines plötzlichen, wilden Bisses war.
Aber er war nur Moose. Sie konnte ihn im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung, die vom Flur durch die Tür hereinschien, gerade noch erkennen, und dann konnte sie endlich auch wieder atmen. Er legte die Vorderpfoten auf die Matratze, da er zu wohlerzogen war, ganz aufs Bett zu springen. Er winselte leise und schien nur ein wenig Zuwendung zu wollen.
Sie war sicher, daß sie die Tür vor dem Zubettgehen zugemacht hatte. Aber sie hatte hinreichend Beispiele für Mooses Klugheit gesehen und sie konnte davon ausgehen, daß er eine Tür aufmachen könnte, wenn er es wollte. Plötzlich wurde ihr auch deutlich, daß das Innere von Talbots Haus mit Einrichtungen versehen war, die es Moose leichter machten: keine Knöpfe, sondern Klinken, die das Schloß öffneten, wenn sie von einer Hand oder Pfote niedergedrückt wurden.
»Einsam?« fragte sie und kraulte den Labrador sanft hinter den Ohren.
Der Hund winselte erneut und ließ sich ihre Zärtlichkeiten gefallen.
Dicke Regentropfen klatschten ans Fenster. Sie fielen mit solcher Wucht herunter, daß sie sie draußen durch die Bäume platschen hören konnte. Wind wehte beharrlich gegen das Haus.
»Nun, Kumpel, wie einsam du auch immer sein magst, ich bin bestimmt tausendmal müder, daher wirst du dich wohl zurückhalten müssen.«
Als sie aufhörte, ihn zu streicheln, begriff er. Er ließ sich widerstrebend auf den Boden nieder, trottete zur Tür, sah sich noch einen Augenblick zu ihr um, ging auf den Flur hinaus, sah in beide Richtungen und wandte sich nach links.
Das Licht vom Flur war minimal, aber es störte sie. Sie stand auf und machte die Tür zu, und als sie sich im Dunkeln zum Bett zurückgetastet hatte, wußte sie, daß sie nicht gleich wieder einschlafen würde.
Zunächst einmal hatte sie sämtliche Kleidungsstücke an -Jeans und T-Shirt und Pullover - und nur die Schuhe ausgezogen, und so fühlte sie sich nicht besonders wohl. Aber sie hatte nicht die Nerven, sich auszuziehen, denn dann würde sie sich so verwundbar fühlen, daß sie bestimmt gar nicht mehr schlafen könnte. Nach den Geschehnissen im Cove Lodge wollte Tessa darauf vorbereitet sein, schnell zu handeln.
Außerdem war sie im einzigen Gästeschlafzimmer - es gab noch eines, aber das war nicht möbliert -, und Matratze und Steppdecke rochen leicht muffig, da sie jahrelang nicht benutzt worden waren. Es war einmal das Zimmer von Harrys Vater gewesen, dem auch das Haus gehört hatte, der aber vor siebzehn Jahren gestorben war, drei Jahre, nachdem sie Harry aus dem Krieg zurückgebracht hatten. Tessa hatte darauf bestanden, daß sie ohne Laken auskam, einfach auf der Decke schlafen oder, falls sie fror, unter die Decke schlüpfen und auf der bloßen Matratze liegen konnte. Nachdem sie Moose hinausgeschickt und die Tür zugemacht hatte, war ihr kalt, und als sie unter die Decke schlüpfte, schien in dem muffigen Geruch ein Hauch Mehltau mitzuschwingen, schwach, aber unangenehm.
Sie hörte über das Prasseln des Regens hinweg den aufwärts fahrenden Fahrstuhl summen. Wahrscheinlich hatte Moose ihn gerufen. War er nachts immer so rege?