Выбрать главу

Sie war zum Umfallen erschöpft, aber jetzt doch zu wach, ihre Gedanken einfach abzuschalten. Diese Gedanken waren zutiefst besorgniserregend.

Nicht das Massaker im Cove Lodge. Nicht die grausigen Geschichten von Leichen, die wie Abfall ins Krematorium geschaufelt wurden. Nicht die Frau Parkins, die von unbekannten Tieren in Stücke gerissen worden war. Nicht die monströsen nächtlichen Jäger. Diese makabren Bilder trugen zweifellos dazu bei, den Kanal zu festigen, in den ihre Ge -danken flössen, aber sie waren größtenteils nur ein ernster Hintergrund für persönlichere Überlegungen zu ihrem Leben und der Richtung, die es nahm.

Da sie vor kurzer Zeit dem Tod begegnet war, war sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewußter denn je. Das Leben war endlich. In der Regsamkeit und Hektik des täglichen Lebens wurde dieser Gedanke allzu oft vergessen.

Jetzt konnte sie nicht anders, sie mußte darüber nachdenken, und sie fragte sich, ob sie zu sorglos mit ihrem Leben umging, zu viele Jahre verschwendete. Ihre Arbeit war befriedigend. Sie war eine glückliche Frau; für eine Lockland war es fast unmöglich, nicht glücklich zu sein, da sie alle auf Humor eingeschworen waren. Aber sie mußte sich in aller Ehrlichkeit eingestehen, daß sie nicht das bekam, was sie wirklich wollte. Wenn sie auf ihrem derzeitigen Kurs bliebe, würde sie es nie bekommen.

Sie wollte eine Familie und einen Ort, wohin sie gehörte. Das lag natürlich an ihrer Kindheit und Jugend in San Diego, wo sie ihre große Schwester Janice vergöttert und sich in der Liebe ihrer Eltern wohlgefühlt hatte. Das große Ausmaß an Glück und Sicherheit in ihrer Jugend ermöglichte ihr, mit Elend, Verzweiflung und Terror zurechtzukommen, die sie manchmal erlebte, wenn sie an einem ambitionierten Dokumentarfilm arbeitete. Die beiden ersten Jahrzehnte ihres Lebens waren so voller Glück gewesen, daß sie alles Nachfolgende ausglichen.

Der Fahrstuhl war im zweiten Stock angekommen, dann fuhr er mit einem leisen Poltern und neuerlichem Summen weiter nach unten. Sie fand es faszinierend, daß Moose, der daran gewöhnt war, den Fahrstuhl für und mit seinem Herrn zu benützen, ihn nachts selbst benützte, obwohl es über die Treppe schneller gegangen wäre. Auch Hunde konnten Gewohnheitstiere sein.

Sie hatten zu Hause auch Hunde gehabt, als sie noch ein Kind gewesen war, zuerst einen Apportierhund namens Barney, danach einen irischen Setter namens Mickey Finn...

Janice hatte vor sechzehn Jahren geheiratet und war von zu Hause fortgegangen, als Tessa achtzehn gewesen war, und danach hatte die Entropie, die blinde Kraft der Auflösung, das behagliche Leben in San Diego zunichte gemacht. Tessas Dad war drei Jahre später gestorben, kurz nach seiner Beerdigung hatte sich Tessa auf den Weg gemacht, um ihre Werbespots, Dokumentationen und Reisefilme zu machen, und sie hatte zwar regelmäßigen Kontakt mit ihrer Mutter und Schwester gehalten, aber die goldene Zeit war vorbei gewesen.

Jetzt lebte Janice nicht mehr. Und Marion würde nicht ewig leben, auch dann nicht, wenn sie das Fallschirmspringen wirklich sein ließe.

Tessa wünschte sich vor allen Dingen, diese häusliche Idylle mit einem Mann und eigenen Kindern neu erschaffen zu können. Sie hatte mit dreiundzwanzig einen Mann geheiratet, der Kinder mehr wollte, als er sie gewollt hatte, und als sie herausfanden, daß sie keine Kinder bekommen konnte, hatte er sie verlassen. Adoption genügte ihm nicht. Er wollte Kinder, die biologisch seine eigenen waren. Vierzehn Monate vom Tag der Eheschließung bis zur Scheidung. Sie hatte sehr gelitten.

Danach hatte sie sich mit einem Eifer auf ihre Arbeit gestürzt, wie sie ihn vorher nicht gekannt hatte. Sie war einsichtig genug zu erkennen, daß sie durch ihre Kunst versuchte, die ganze Welt zu erreichen, als wäre sie eine einzige große Familie. Indem sie komplizierte Geschichten und Themen in dreißig, sechzig oder neunzig Minuten Film zwängte, versuchte sie, die Welt zu verkleinern, sie auf das Wesentliche zu reduzieren, auf die Größe einer Familie.

Aber als sie nun in Harry Talbots Gästezimmer wach lag, wußte sie, daß sie niemals völlige Befriedigung finden würde, wenn sie ihr Leben nicht radikal veränderte und das, was sie sich so sehr wünschte, direkter suchte. Es war unmöglich, eine Person mit Tiefe zu sein, wenn einem die Liebe zur Menschheit fehlte, aber diese verallgemeinerte Liebe konnte sehr schnell dünn und bedeutungslos werden, wenn man keine Familie hatte, die einem nahestand; denn in der Familie sah man tagtäglich die speziellen Dinge in speziellen Menschen, die in der Verlängerung eine umfassendere Liebe zu anderen Mitmenschen rechtfertigte. In ihrer Kunst suchte sie nach dem Spezifischen, aber ihr fehlte ein Gefühlsleben.

Während sie Staub und den schwachen Mehltaugeruch einatmete, war ihr, als hätte ihr Potential als Persönlichkeit so lange brachgelegen wie dieses Gästezimmer. Aber nachdem sie jahrelang keine Verabredung mehr gehabt hatte, nachdem sie sich vor ihrem gebrochenen Herzen in harte Arbeit geflüchtet hatte, wie sollte sich eine vierunddreißig-jährige Frau jetzt dem Teil ihres Lebens öffnen, dem sie sich absichtlich verschlossen hatte? In diesem Augenblick fühlte sie sich unfruchtbarer als jemals seit sie erfahren hatte, daß sie nie eigene Kinder haben könnte. Und die Frage, wie sie ihr Leben neu gestalten könnte, schien derzeit wichtiger zu sein als herauszufinden, woher die Schreckgespenster kamen und was sie waren.

Kontakt mit dem Tod konnte seltsame Gedanken wecken.

Nach einer Weile überwand Müdigkeit ihre innere Aufruhr, und sie schlief wieder ein. Kurz bevor sie endgültig einschlummerte, wurde ihr klar, daß Moose vielleicht in ihr Zimmer gekommen wir, weil er gespürt hatte, daß etwas im Haus nicht stimmte. Vielleicht hatte er versucht, sie zu warnen. Aber er wäre sicher aufgeregter gewesen und hätte gebellt, wenn wirklich Gefahr bestanden hätte.

Dann schlief sie ein.

2

Shaddack kehrte von Peyser zu seinem uraltmodernen Haus an der Nordspitze der Bucht zurück, blieb aber nicht lange. Er machte drei Schinkensandwiches, packte sie ein und legte sie mit mehreren Dosen Coke in eine Kühltasche. Die Tasche brachte er nebst ein paar Decken und einem Kis sen in den Lastwagen. Er holte aus dem Waffenschrank in seinem Arbeitszimmer eine Smith-Wesson 357 Magnum, eine halbautomatische Remington-Schrotflinte Kaliber 12 mit Pistolengriff und jede Menge Munition für beide. Solchermaßen ausgerüstet, machte er sich im Sturm auf, durch Moonlight Cove und die Umgebung zu kreuzen; er hatte die Absicht, in Bewegung zu bleiben und die Situation per Computer zu verfolgen, bis die erste Phase von Projekt Moonhawk um Mitternacht, weniger als neunzehn Stunden von jetzt an, beendet sein würde.

Watkins' Drohung machte ihn nervös. Wenn er in Bewegung bliebe, würde er nicht so leicht zu finden sein, wenn Watkins regressiv würde, sein Versprechen hielte und ihn verfolgte. Um Mitternacht, wenn die letzten Verwandlungen vollbracht wären, würde Shaddack seine Macht konsol-diert haben. Dann könnte er sich um den Polizisten kümmern.

Watkins würde geschnappt und eingesperrt werden, bevor er sich verwandelte. Dann könnte Shaddack ihn auf dem Labortisch festschnallen, seine Psychologie und Physiologie studieren und eine Erklärung für diese Seuche der Regression finden.

Er akzeptierte Watkins' Erklärungen nicht. Sie wurden nicht regressiv, um dem Leben als Neue Menschen zu entkommen. Hätte er diese Theorie akzeptiert, hätte er sich eingestehen müssen, daß das Projekt Moonhawk eine fatale Katastrophe war, daß die Verwandlung kein Segen für die Menschheit war, sondern ein Fluch, und daß seine ganze Arbeit in ihrer Wirkung nicht nur irregeleitet, sondern sogar gemeingefährlich war. Das konnte er niemals zugeben.

Als Schöpfer und Herr der Neuen Menschen, hatte er gottgleiche Macht kennengelernt. Diese wollte er nicht mehr hergeben.

Die regennassen Straßen waren kurz vor der Dämmerung verlassen, abgesehen von den Autos - manche waren Streifenwagen, manche nicht -, in denen jeweils zwei Männer fuhren, um entweder Booker, Tessa Lockland, die Tochter der Fosters oder Regressive auf Streifzügen zu finden. Sie konnten zwar nicht durch die stark getönten Scheiben des Lieferwagens sehen, wußten aber ganz bestimmt, wem das Fahrzeug gehörte.