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Man konnte auch von außen in die Boxen, aber in dieser kühlen Jahreszeit blieben die Doppeltüren oben wie unten verriegelt, damit keine Wärme aus dem Stall entweichen konnte. Godiva war ein ruhiges Pferd und Chrissie gegenüber besonders feinfühlig, aber es machte sie nervös, wenn man sich ihr im Dunkeln näherte; wenn sie um diese Tageszeit durch das Öffnen der Außentür überrascht wurde, scheute sie vielleicht oder ging hoch. Und weil Chrissie es sich nicht leisten konnte, auch nur ein paar Sekunden damit zu vergeuden, ihr Reittier zu beruhigen, mußte sie durch das Stallinnere zu dem Pferd gehen.

Godiva wartete auf sie. Das Pferd schüttelte den Kopf, warf die dichte weiße Mähne, derentwegen sie den Namen bekommen hatte, hin und her, und blies zur Begrüßung Luft durch die Nüstern.

Chrissie, die zur Stalltür sah und jeden Moment damit rechnete, daß Tucker und ihre Eltern hereinstürmen würden, entriegelte die Tür der Box. Godiva kam auf den Gang zwischen den Boxen heraus.

»Sei eine Dame, Godiva. Oh, bitte, sei lieb.«

Sie hatte keine Zeit, das Pferd zu satteln oder ihm Zaumzeug anzulegen. Sie legte eine Hand auf Godivas Flanke und führte das Pferd am Geräteschuppen und dem Futtermittellager vorbei, die das letzte Viertel des Stalls beanspruchten, wobei sie eine Maus aufschreckte, die in eine dunkle Ecke flüchtete. Sie rollte das Tor am anderen Ende auf, kühle Luft strömte herein.

Chrissie war zu klein, um ohne Steigbügel auf das Pferd steigen zu können.

In der Ecke, beim Gerätelager, stand das Haltepodest eines Hufschmieds. Chrissie nahm die Hand nicht von der Flanke Godivas, damit sie sie ruhig halten konnte, und zog das Podest mit einem Fuß an die Seite des Pferdes.

Hinter ihr, am anderen Ende des Stalls, schrie Tucker: »Da ist sie! Im Stall!« Er lief auf sie zu.

Das Podest war nicht besonders hoch und kein hinreichender Ersatz für den Steigbügel.

Sie konnte Tuckers hallende Schritte hören, näher, näher, aber sie sah ihn nicht an.

Er rief: »Ich habe sie!«

Chrissie packte Godivas herrliche Mähne, warf sich gegen das große Pferd und zog sich hoch, schwang das Bein in die Höhe, strampelte verzweifelt an der Flanke und zerrte heftig an der Mähne. Sie mußte Godiva weh getan haben, aber das alte Mädchen blieb ruhig. Sie bäumte sich nicht auf oder wieherte vor Schmerzen, als würde ihr ein innerer Instinkt sagen, daß das Leben des kleinen Mädchens von ihrer Ruhe abhing. Dann war Chrissie auf Godivas Rücken, koppte gefährlich, blieb aber oben, klammerte sich mit den Knien fest, hielt sich mit einer Hand in der Mähne und schlug dem Pferd auf die Seite.

»Los!«

Tucker war bei ihr, als sie dieses Wort rief, packte ihr Bein, riß an den Jeans. In seinen tiefliegenden Augen loderte Wut; die Nasenlöcher bebten, er hatte die dünnen Lippen zurückgezogen. Sie trat ihm unters Kinn, und er ließ sie los.

Im selben Augenblick sprang Godiva durch das offene Tor in die Nacht.

»Sie hat ein Pferd!« brüllte Tucker. »Sie reitet auf einem Pferd!«

Der Apfelschimmel lief schnurstracks auf den grasbewachsenen Hang zu, der zum ein paar hundert Meter entfernten Meer führte, wo das letzte trübe, rote Licht des Sonnenuntergangs schwache Fleckenmuster auf das schwarze Wasser malte. Aber Chrissie wollte nicht zum Meer hinun-ter, weil sie wußte, wie hoch die Flut war. An manchen Stellen an der Küste war der Strand nicht einmal bei Ebbe breit; wenn jetzt Flut herrschte, bedeutete das, das Wasser würde an manchen Stellen bis zu den Felsklippen reichen und ein Durchkommen unmöglich machen. Da sie von ihren Eltern und Tucker verfolgt wurde, konnte sie es nicht riskieren, in eine Sackgasse zu geraten.

Es gelang Chrissie auch ohne Sattel und bei gestrecktem Galopp, sich auf dem Pferd in eine bessere Position zu ziehen; kaum hing sie nicht mehr wie ein Stuntreiter auf einer Seite herunter, packte sie das dichte, rauhe Haar der Mähne mit beiden Händen und versuchte, damit die Zügel zu ersetzen. Sie drängte Godiva, nach links zu laufen und zu dem eine halbe Meile langen Weg der Zufahrt zur Landstraße, wo sie wahrscheinlicher Hilfe finden würde.

Anstatt angesichts dieser groben Methode der Führung zu rebellieren, gehorchte die geduldige Godiva unverzüglich und wandte sich so problemlos nach links, als hätte sie Zaumzeug im Mund und würde das Ziehen der Zügel spüren. Das Donnern der Hufe hallte von den Stallwänden wieder, als sie an dem Gebäude vorbeiritten.

»Du bist ein tolles altes Mädchen!« rief Chrissie dem Pferd zu. »Ich liebe dich, Mädchen!«

Sie ritten in sicherer Entfernung am Ostende des Stalls vorbei, wo sie zu dem Pferd gegangen war, und sie erblickte Tucker, der zum Tor herauskam. Er war eindeutig überrascht, daß sie in diese Richtung ritt, und nicht zum Meer hinunter. Er rannte auf sie zu, und er war überraschend schnell, aber keine Gefahr für Godiva.

Sie kamen zum Weg der Einfahrt, und Chrissie ließ Gbdi-va auf dem weichen Seitenstreifen laufen, der parallel zum geteerten Weg verlief. Sie beugte sich nach vorne und drückte sich so fest sie konnte gegen das Pferd, weil sie entsetzliche Angst hatte, sie könnte herunterfallen; sie spürte jedes Auftreten der Hufe als Rütteln durch den ganzen Körper. Sie hatte den Kopf auf die Seite gedreht, daher konnte sie links das Haus erkennen, dessen Fenster erleuchtet, aber keineswegs anheimelnd waren. Das war nicht mehr ihr Zuhau-se; es war die Hölle zwischen vier Wänden, daher erschien ihr das Licht in den Fenstern wie die dämonischen Feuer in den Höhlen des Hades.

Plötzlich sah sie etwas über den Rasen zum Weg eilen, in ihre Richtung. Es war geduckt und schnell, etwa so groß wie ein Mensch, lief aber auf allen vieren - jedenfalls beinahe - und verkürzte die Entfernung von zwanzig Metern zusehends. Dahinter sah sie eine weitere, gleichermaßen bizarre, aber etwas kleinere Gestalt. Obwohl sich beide Gestalten vor dem Licht vom Haus abzeichneten, konnte Chrissie wenig mehr als die Umrisse erkennen, aber sie wußte, was sie waren. Nein, das mußte sie verbessern; sie wußte, wer sie wahrscheinlich waren, aber sie wußte immer noch nicht, was sie waren, obwohl sie sie heute morgen oben im Flur gesehen hatte; sie wußte, was sie gewesen waren - Menschen wie sie selbst -, aber nicht, was aus ihnen geworden war.

»Lauf, Godiva, lauf!«

Obwohl Chrissie keine Reitpeitsche knallen lassen konnte, um das Tier anzuspornen, lief das Pferd schneller, als wäre es telepathisch mit ihr verbunden.

Dann hatten sie das Haus hinter sich gelassen und flohen parallel zum Weg über die Wiese, der weniger als eine halbe Meile östlich liegenden Landstraße entgegen. Das leichtfüßige Pferd ließ die gewaltigen Laufmuskeln spielen, der ausgereifte Schritt war so einlullend rhythmisch und erhebend, daß Chrissie die Holperigkeit des Ritts bald gar nicht mehr bemerkte; es war, als würden sie beinahe fliegend über den Boden gleiten.

Sie sah über die Schulter, konnte aber die zwei gebückten Gestalten nicht erkennen, obwohl sie ihr zweifellos immer noch durch die vielschichtigen Schatten folgten. Die Sicht war schlecht, da das trübe, rote Leuchten am westlichen Horizont zu Purpur wurde, die Lichter des Hauses rasch zurückblieben und die Mondsichel erst einen silbernen Punkt über der Hügelkette im Osten bildete.

Sie konnte die Verfolger, die zu Fuß unterwegs waren, zwar nicht sehen, dafür aber die Scheinwerfer von Tuckers blauem Honda um so deutlicher. Tucker wendete den Honda vor dem Haus, das mittlerweile ein paar hundert Meter hinter ihr lag, und fuhr den Weg entlang, um an der Jagd teilzunehmen.