Shaddack kannte viele, denn sie arbeiteten bei New Wave und gehörten zum Kontingent der einhundert, die er erst vor ein paar Stunden der Polizei zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Gesichter hinter den vom Regen überspülten Windschutzscheiben schwebten wie blasse Scheiben im dunklen Inneren ihrer Autos und waren so ausdruckslos, daß sie Schaufensterpuppen oder Roboter hätten gehören können.
Andere gingen zu Fuß durch die Stadt, waren aber verstohlener und hielten sich in den dunklen Schatten und Nebenstraßen. Von ihnen sah er keinen.
Shaddack fuhr auch an zwei Verwandlungsteams vorbei, die leise, und zielstrebig von einem Haus zum anderen schlichen. Jedesmal, wenn sie eine Verwandlung abgeschlossen hatten, gab das Team die Daten in ein VDT im Auto ein, damit das zentrale System bei New Wave über ihren Fortschritt informiert blieb.
Als er an einer Kreuzung hielt und die Tabelle auf seinem eigenen VDT abrief, stellte er fest, daß in der Verwandlungsphase von Mitternacht bis sechs Uhr morgens nur noch fünf Personen übrigblieben. Sie waren dem Zeitplan ein wenig voraus.
Heftiger Regen fiel von Westen und schimmerte im Licht der Scheinwerfer so silbern wie Eis. Bäume schüttelten sich, als hätten sie Angst. Und Shaddack blieb in Bewegung und zog durch die Nacht, als wäre er ein seltsamer Raubvogel, der es vorzog, im Sturmwind zu jagen.
3
Tucker führte, und so hatten sie gejagt, getötet, gebissen und gerissen, gekrallt und gebissen, gejagt und getötet und die Beute gefressen, Blut getrunken, Blut, warm und süß, dickflüssig und warm, süß und dickflüssig, Blut, hatten das Feuer in ihrem Fleisch gelöscht, das Feuer mit Nahrung gekühlt. Blut.
Tucker hatte allmählich festgestellt, daß das Feuer um so weniger intensiv brannte, je länger sie in ihrem verwandelten Dasein blieben, und es um so leichter war, in der submenschlichen Gestalt zu bleiben. Etwas sagte ihm, er sollte sich Sorgen darüber machen, daß es ihm immer leichter fiel, sich an de Gestalt der Bestie zu klammern, aber er konnte nicht viel Sorgen dafür entwickeln, was teilweise daran lag, daß sich sein Verstand nicht mehr länger als ein paar Sekunden auf komplexe Gedanken konzentrieren konnte.
Sie waren im Mondenschein über die Felder und Hügel gelaufen, frei gelaufen und gerannt, frei, so frei im Monden-schein und Nebel, im Nebel und Wind, und Tucker hatte sie geführt, hatte nur angehalten, um zu töten und zu fressen, oder um sich mit dem Weibchen zu paaren, das ihre eigene Lust mit einer Aggressivität nahm, die aufregend, wild und erregend war.
Dann kam der Regen.
Kalt.
Prasselnd.
Auch Donner, und grelles Licht am Himmel.
Ein Teil von Tucker schien zu wissen, was diese langen, zackenförmigen Lichter waren, die den Himmel zerrissen. Aber er konnte sich nicht richtig erinnern, und er hatte Angst, raste in den Schutz von Bäumen, wenn das Licht ihn auf offenem Gelände überraschte, kauerte sich mit dem Weibchen und dem anderen Männchen nieder, bis der Himmel wieder dunkel geworden und eine Weile so geblieben war.
Tucker suchte nach einem Ort, wo sie Zuflucht vor dem Sturm finden könnten. Er wußte, sie sollten dorthin zurückkehren, wo sie aufgebrochen waren, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wo genau das gewesen war. Zudem hätte die Rückkehr dorthin bedeutet, daß sie ihre Freiheit aufgeben und ihre angeborenen Identitäten wieder hätten annehmen müssen. Sie wollten laufen und streifen und töten und sich paaren und frei sein, frei. Wenn sie zurückkehrten, könnten sie nicht mehr frei sein, daher liefen sie weiter, überquerten eine Straße mit harter Oberfläche, liefen in die höheren Hügel, hielten sich von den wenigen Häusern der Gegend fern.
Die Dämmerung rückte näher, sie zeichnete sich noch nicht am östlichen Horizont ab, aber se rückte näher, und Tucker wußte, sie mußten einen Unterschlupf finden, bevor es hell würde, einen Ort, wo sie sich nebeneinander zusammenrollen könnten, drunten in der Dunkelheit, um Wärme zu teilen, Dunkelheit und Wärme, sicher zusammengerollt mit Erinnerungen an Blut und Paarung, Dunkelheit und Wärme und Blut und Paarung. Dort würden sie nicht in Gefahr sein, sicher vor einer Welt, in der sie fremd waren, und ebenfalls sicher davor, wieder in die menschliche Gestalt zurückkehren zu müssen. Wenn es wieder Nacht würde, könnten sie herauskommen und umherstreifen und töten, töten, beißen und töten, und vielleicht würde der Tag kommen, da es so viele ihrer Art in der Welt gäbe, daß sie nicht mehr in der Minderzahl wären und auch bei Tage umherstreifen könnten, aber nicht jetzt, noch nicht.
Sie kamen an einen Feldweg, und Tucker hatte eine vage Erinnerung, wo er sich befand, das Wissen, daß dieser Weg sie rasch zu einem Ort führen könnte, der den Schutz böte, den er und seine Meute brauchten. Er folgte ihm weiter in die Hügel und ermutigte seine Gefährten mit leisem, zuversichtlichem Knurren. Nach wenigen Minuten kamen sie zu einem Gebäude, einem großen, verfallenen alten Haus, dessen Fenster eingeschlagen waren und dessen Tür schief in halb zerfallenen Scharnieren hing. Andere graue Bauwerke ragten aus dem Regen auf: eine Scheune, die in einem noch schlimmeren Zustand als das Haus war, mehrere Nebengebäude, die größtenteils verfallen waren.
Große, handgemalte Schilder waren zwischen zwei Fenster im ersten Stock an die Hauswand genagelt worden, ein Schild über dem anderen, mit verschiedenen Handschriften, als wäre das zweite erst viel später als das erste aufgehängt worden. Er wußte, sie bedeuteten etwas, aber er konnte sie nicht lesen, obwohl er sich anstrengte, sich an die vergessene Sprache der Rasse zu erinnern, der auch er einst angehört hatte.
Die beiden Mitglieder seiner Meute standen neben ihm. Auch sie sahen zu den dunklen Buchstaben auf weißem Grund empor. Verschwommene Symbole in Regen und Halbdunkel. Seltsame und geheimnisvolle Runen.
IKARUS KOLONIE
Und darunter:
DAS IKARUS KOLONIE-RESTAURANT NATURKOST
An der verfallenen Scheune befand sich ein anderes Schild -Flohmarkt -, aber das sagte Tucker ebensowenig wie die Schilder am Haus selbst, und nach einer Weile kam er zu dem Ergebnis, daß es einerlei war, ob er sie verstand. Wichtig war, es waren keine Menschen in der Nähe, kein frischer Geruch oder Vibrationen von menschlichen Wesen, daher war dies vielleicht das Versteck, das er suchte, ein Bau, eine Hütte, ein warmer und dunkler Unterschlupf, warm und dunkel, sicher und dunkel.
4
Sam hatte sich mit einer Decke und einem Kissen ein Bett auf dem langen Sofa im Wohnzimmer gemacht, welches direkt an die Diele im Erdgeschoß angrenzte. Er wollte im Erdgeschoß schlafen, damit er wach würde, falls jemand eindringen wollte. Dem Plan zufolge, den Sam auf dem VDT im Streifenwagen gesehen hatte, sollte Harry Talbot erst am kommenden Abend verwandelt werden. Er bezweifelte, daß sie ihren Plan beschleunigen würden, weil sie wußten, daß sich ein FBI-Agent in Moonlight Cove aufhielt. Aber er konnte keine unnötigen Risiken eingehen.
Sam litt häufig an Schlaflosigkeit, aber das machte ihm in dieser Nacht nicht zu schaffen. Nachdem er die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, lauschte er ein paar Minuten dem Regen und versuchte, an nichts zu denken. Wenig später schlief er ein.
Er träumte von Karen, seiner verstorbenen Frau, die, wie immer in seinen Alpträumen, im Endstadium ihrer Krebskrankheit war, ausgezehrt aussah und Blut spuckte, nachdem die Chemotherapie versagt hatte. Er wußte, er mußte sie retten. Er konnte es nicht. Er kam sich winzig, ohnmächtig und schrecklich ängstlich vor.
Aber der Alptraum weckte ihn nicht.
Schließlich verlagerte sich der Traum vom Krankenhaus in ein dunkles und verfallenes Gebäude. Es sah aus wie ein von Salvador Dali entworfenes Hoteclass="underline" Die Flure zweigten wahllos ab; manche waren kurz, andere so lang, daß man ihr Ende nicht sehen konnte; Wände und Böden befanden sich in surrealistischen Winkeln zueinander, die Türen zu den Zimmern waren von unterschiedlicher Größe, manche so klein, daß nur eine Maus durchgekonnt hätte, andere groß genug für einen Menschen, wieder andere in einem Maßstab, der einem sechs Meter großen Riesen genügt hätte.